Vorteil China!
Nach Li Nas Sieg über Venus Williams stehen in Melbourne erstmals zwei Spielerinnen aus dem Reich der Mitte im Halbfinale eines Grand Slams: „Ein Boom, der alles in den Schatten stellt“
MELBOURNE Als Venus Williams gestern nach drei Stunden Hitzeschlacht den Centre Court verließ, als geschlagene, enttäuschte Titelfavoritin, da brach drei Kilometer Luftlinie entfernt zeitgleich der Jubelsturm los – in Chinatown Melbourne. Ein Hupkonzert ertönte, rote Flaggen wurden geschwenkt – und dann ließen die Chinesen immer wieder ihre neueste Heldin hochleben: Li Na, die „Goldene Blume“. Die Frau, die Big Sister Venus unbeugsam und nervenstark mit 2:6, 7:6 (7:4), 7:5 zusammengestutzt und einen historischen Coup in die Geschichtsbücher des Welttennis festgeschrieben hatte, einen Coup mit womöglich großer Tragweite und Strahlkraft für die Zukunft dieses Sports.
Mit Nas Vormarsch hatten erstmals zwei Chinesinnen bei einem Grand-Slam-Turnier das Halbfinale erreicht und damit das beste Ergebnis aller Zeiten für China erzielt. Schon am Dienstag hatte sich Jie Zheng mit einem Sieg über Maria Kirilenko für die Runde der letzten Vier qualifiziert.
„Jetzt wird in China die Hölle los sein. Das ganze Land fiebert mit uns“, sagte Na. Bis zu 100 Millionen Menschen hatten auch am Mittwoch vor dem Bildschirm mitgefiebert, so wie seit Beginn dieses „märchenhaften Turniers“ (Shanghai Daily). Und hatten anschliessend genau so enthusiastisch gefeiert wie ihre Landsleute im fernen Melbourne.
Zhengs und Nas Siegesserie wurde von Experten als letztes Indiz für einen nahenden Umbruch gewertet, als Zeichen für ein heraufziehendes chinesisches Zeitalter im Profitennis. Vorteil China? „In ein paar Jahren werden die chinesischen Spieler eine feste Größe sein. Top-Ten-Plätze sind dann selbstverständlich", erklärte Michael Chang, der ehemalige French Open-Sieger, der im Heimatland seiner Eltern eine Tennis-Akademie gegründet hat. Und Craig Tiley, der Australian-Open-Boss, sagte: „Der Aufschwung Chinas ist imponierend. Der schlafende Riese ist längst erwacht.“ Und zwar unabhängig davon, was in den Halbfinals kommt, in den Duellen Zheng gegen Justine Henin, Na gegen Serena Williams..
Tennis in China sprengt inzwischen alle Dimensionen. 1990 gab es im Milliardenvolk nach Schätzungen des Internationalen Tennisverbands ganze 10000 Aktive, inzwischen sind es drei Millionen offiziell registrierte Spieler. Mit zunehmender Tendenz. „Ich rechne mit bis zu 30 Millionen Spielern in den nächsten zwei, drei Jahrzehnten“, sagt die langjährige Nationaltrainerin Chen Li, „Tennis ist chic in China.“ Aktuell werden pro Jahr 1000 neue Courts gebaut, in Umfragen gaben 175 Millionen Chinesen an, sich für Tennis zu interessieren.
Der Tennisappetit spiegelt sich auch im TV wider: Weit über 1000 Stunden Spitzentennis werden pro Saison gezeigt, von den Topturnieren bleibt quasi kein Spiel ungesendet. Brad Drewett, der bei den Männern das Masters in Schanghai organisierte, prophezeit: „Das wird ein Boom, der alles in den Schatten stellt. Bald wird China das Land sein, in dem die meisten Kinder Tennis spielen – und in dem die Industrie die meisten Schläger und Dresses verkauft.“ Jährliche „Wachstumsraten von 300 Prozent“ seien drin.
Zheng und Na hatten als Vorbotinnen der kommenden Supermacht China schon mehrfach für Aufsehen gesorgt – so wie 2008, als Zheng sich von Platz 133 der Weltrangliste aus mit einer Wild Card des All England Club bis ins Wimbledon-Halbfinale durchschlug. 2006 war sie auf den grünen Tennisfelder in London sogar gemeinsam mit Zi Yan zum Doppelsieg gestürmt. Auf die Pärchenkonkurrenzen und aufs Frauentennis hatte Chinas Staatsführung alle Konzentration gelenkt, als sie zur Jahrtausendwende einen Masterplan für das Mitwirken im Profigeschäft entwickelte. „Dort war der Anschluss schneller zu erreichen", sagt Gao Shenyang, ein Mitglied der staatlichen Sportkommission. Nationaltrainer Hong Wie Jiang, der auch das olympische Golddoppel Li Ting und Sun Tiantian formte (2004) formte, lieferte auch eine andere Begründung, warum nur chinesische Frauen eine tragende Rolle im Tennis spielen: „Sie sind leichter zu trainieren und zu lenken."
Doch von Linientreue war bei den Stars zunächst keine Spur: Zheng und Na drohten sogar mit Abwanderung, weil die lange allmächtige Chinese Tennis Association (CTA) hohe Zwangsabgaben von den eingespielten Preisgeldern kassieren und Einfluß auf Turnier- und Trainingspläne nehmen wollte. Nachdem die CTA im Herbst 2008 ihr Kontroll- und Überwachungsregime lockerte, ging es sportlich aufwärts. „Die Spielerinnen können sich selbst organisieren und managen. Das hat sofort Wirkung gezeigt“, sagt Lu Ang, der Tenniskommentator des Staatsfernsehens CCTV.
Jörg Allmeroth
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