Vom Zettel-Helden zum Zappel-Jens
Nach den Patzern von Jens Lehmann in Wien gibt es im deutschen Fußball wieder eine Torhüter-Debatte. Franz Beckenbauer spottet. Und gleich fünf Keeper lauern schon.
Das muss ihm erstmal einer nachmachen. Da war Jens Lehmann ein doppelter Gewinner des Abends von Wien – und doch der größte Verlierer der deutschen Mannschaft.
Seit 531 Länderspiel-Minuten ohne Gegentreffer
Ein 3:0 im ersten EM-Test gegen Co-Gastgeber Österreich. Lehmann und seine Kollegen machten vor der Kurve der DFB-Fans die Welle. Ein Erfolg im Kollektiv – und dazu ein ganz persönlicher Triumph für den 38-Jährigen. Seit 531 Länderspiel-Minuten ist Lehmann nun ohne Gegentreffer. Ein bemerkenswerter Rekord. Den letzten Gegentreffer kassierte er in London, beim 2:1 gegen England am 22. August 2007. Es folgten: Ein 2:0 in Wales, ein 0:0 in Dublin, ein 4:0 gegen Zypern, ein 0:0 gegen Wales und jetzt das 3:0 in Österreich.
Mit dieser Bilanz müsste einer wie Lehmann, der WM-Torhüter, gänzlich unumstritten sein. Doch in Wien hat er verloren. Seine Souveränität, seine Selbstsicherheit – und später im Gespräch mit den Journalisten auch noch die Fassung. Ob er zufrieden sei, wurde er höflich gefragt. Die Antwort: „Ja, ich habe einen Fehler gemacht.“ Da hat er mal eben drei dicke Böcke innerhalb weniger Minuten zu einem Sammelfehler gemacht – interessante Sichtweise.
Es war der negative Höhepunkt einer fahrigen Leistung: Erst rannte er auf Österreichs Stürmer Linz zu und verfehlte ihn als hätte er die Augen verbunden gehabt und bei zwei aufeinander folgenden Ecken griff und faustete er jeweils daneben als wäre es eine Kirmes-Gaudi, den Ball zu treffen. „So unsicher wie diesmal habe ich Lehmann selten gesehen“, meinte Franz Beckenbauer in der Tageszeitung „Österreich“, „drei heftige Patzer in einer Minute – er hat Glück, dass er am Ende zu Null gespielt hat. Sonst wäre seine mangelnde Spielpraxis ein großes Thema.“
Ist es längst. Nur sieben Pflichtspiele hat Lehmann bei Arsenal London diese Saison bestritten. Am Mittwoch lieferte er selbst die Erklärung dafür, warum ihn Trainer Arsène Wenger nur als Nummer zwei hinter dem Spanier Manuel Almunia einstuft.
Der Held des WM-Viertelfinales
Einsichtig hat er sich nie gezeigt, alle Bedenken hinsichtlich der mangelnden Spielpraxis wischte er weg – am besten mit starken Leistungen wie beim 0:0 im Oktober in Irland. Doch gegen Österreich blamierte sich der WM-Held, der im Viertelfinale das Weiterkommen gegen Argentinien mit starken Paraden im Elferschießen gesichert hatte – mit schriftlicher Hilfestellung im Stutzen. Im Wiener Prater wurde aus dem Zettel-Helden plötzlich der Zappel-Jens.
Aber Bundestrainer Jogi Löw will weiter festhalten an Lehmann: „Wir wissen, dass jetzt eine Torwart-Diskussion aufkommt.“ Nationalelf-Manager Oliver Bierhoff meinte: „Wer Jens kennt, weiß, dass er dem Druck standhält.“
Vorbei gesegelt an den Reporterfragen
Auch nervlich? „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt einen Fehler gemacht habe“, sagte er selbstverliebt, senkte den Kopf und hob die Stimme: „Oder können sie sich erinnern?“
Und sogleich lief er – sinnbildlich – wieder raus aus seinem Tor, ein Ablenkungsmanöver als Fluchtweg. „Es gibt andere Probleme, aber wenn Deutschland nichts anderes zu diskutieren hat, ist es ja gut.“ Wie zuvor an den Flanken, segelte er an allen Reporterfragen vorbei.
P. Strasser