Voigts Lebensretter
Hätte der Radprofi bei seinem bösen Sturz keinen Helm getragen, wäre er nun tot, sagt der Tour-Arzt. Klar, Glück hat der Deutsche auch gehabt – mehr als so mancher Star vor ihm.
LE GRAND-BORNAND Jens Voigt (37) hat bei seinem fürchterlichen Sturz auf der Abfahrt vom Kleinen St.Bernard noch Glück im Unglück gehabt: Jochbeinbruch, Gehirnerschütterung, Hautabschürfungen. „Es geht ihm den Umständen entsprechend gut", teilte Brian Nygaard, der Pressechef des Teams Saxo Bank, mit. Voigt müsse aber mindestens bis Donnerstag im Universitätsklinikum von Grenoble bleiben. Der Helm, seit 2003 Pflicht, habe dem Mecklenburger „das Leben gerettet“, sagte Tour-Arzt Xavier Roy.
Voigt: Der helm rettete ihm das Leben
Der Italiener Fabio Casartelli, Olympiasieger 1992 in Barcelona, trug keinen Kopfschutz, als er 1995 bei der Abfahrt vom Col Portet-d'Aspet in den Pyrenäen stürzte, gegen einen Grenzstein prallte und an seinen schweren Kopfverletzungen starb. Die Etappe am folgenden Tag wurde unter der Führung Miguel Indurains, der in jenem Jahr seinen fünften Tour-Sieg errang, zur geschlossenen Trauerfahrt des Pelotons über die Pyrenäen-Pässe. Es gab keinen Etappensieger.
Zwei Tage später siegte ein junger Amerikaner in Limoges nach einem Solo. Vor dem Ziel richtete er sich auf, schaute zum Himmel und deutete mit beiden Zeigefingern nach ob: Lance Armstrong widmete seinen Sieg dem toten Freund aus der Mannschaft Motorola. Wann immer man Armstrong nach seinem emotionalsten Sieg fragt, antwortet er mit einem Wort: „Limoges.“
Mit Tempo 80 in die Tiefe
Halsbrecherische Abfahrten mit Tempo jenseits von Tempo 80 durch die Serpentinen bergen in der Tat eine tödliche Gefahr. Wie 1960: Roger Rivière (24), Vierter im Jahr davor, trägt die Hoffnungen Frankreichs auf den Sieg. Auf der Abfahrt vom Col du Perjuret in den Cevennen stürzt er in eine Schlucht hinab. Eine Wirbelverletzung lähmt den Stunden-Weltrekordhalter für den Rest seines kurzen Lebens. Rivière leidet an schweren Depressionen, nimmt Drogen gegen die Schmerzen, wird abhängig und stirbt 1976; da ist er 40.
Der Spanier Luis Ocana trägt 1971 das Gelbe Trikot, stürzt in den Pyrenäen bei der Abfahrt vom Col de Menté einen Abhang hinunter, erleidet Schlüsselbein- und Beckenbruch. Ocana ist ein grandioses Comeback vergönnt. Er gewinnt die Tour 1973.
Auch Ullrich stürzte bei der Tour 2001 schwer
Jan Ullrich hatte 2001 einen Schutzengel, als er die Kurve nicht kriegt, über eine Leitplanke purzelt und in einer tiefen Böschung verschwindet. Als wäre nichts gewesen, klettert er, das Rad geschultert, den Abhang hinauf und fährt weiter. Lance Armstrong, sein fairer Rivale, hat oben auf ihn gewartet.
Auch dieses Bild von der Tour 2003 ist historisch: Joseba Beloki stürzt bei der Zielabfahrt nach Gap. Armstrong kann gerade noch ausweichen und steuert sein Rad querfeldein über eine Wiese zurück auf die Straße. Der Spanier, Dritter 2001, Zweiter 2002, erleidet einen Beckenbruch und kehrt nur noch als zweitklassiger Fahrer zurück.
Jens Voigt war sich vor seiner zwölften Tour des Risikos bewusst. Vergangenen Herbst hatte er gesagt: „Ich habe fünf Kinder zu Hause. Wenn die Frage im Raum steht, gewinnen oder stürzen, dann gehe ich lieber auf Nummer sicher, werde Dritter und bleibe dafür in einem Stück.“
Frau Voigt sah den Sturz beim Kindergeburtstag
Ehefrau Stephanie, die gerade auf einem Kindergeburtstag war, als ihr Mann stürzte, ist inzwischen zu Voigt geflogen. Und sein Vater Egon berichtete gestern in einem Radio-Interview: „Seine Frau hat mit ihm gesprochen. Da hat er schon gesagt, das tut ihm leid, dass er uns allen so einen Schrecken eingejagt hat. Aber ihm geht es ganz gut. Er hat schon ein schlechtes Gewissen sozusagen.“
Wenn’s weiter nichts ist.
Hartmut Scherzer
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