Und China menschelt doch

Tränen nach dem Aus der Hürdensprint-Ikone Liu Xiang. Der Trainer bekommt einen Weinkrampf, Reporter schluchzen, das Publikum flüchtet aus dem Stadion.
Kurz zuvor waren sie noch so fröhlich gewesen. Mädchen mit roten Perücken und der roten Fahne im Gesicht, Kinder mit roten Stirnbändern. Die Stimmung war heiter und ausgelassen unter den 91 000 Zuschauern. Wegen Liu Xiang waren sie da, ihrem Nationalhelden, der Gold holen sollte über 110 m Hürden. Doch dann erstarrte das Stadion, viele Menschen begannen zu weinen, und selbst altgediente chinesische Journalisten auf der Pressetribüne schluchzten. Der Reporter Liu Xunfeng sprach von einem „Drama für ganz China“.
Das nationale Drama war unten beim sechsten Vorlauf passiert, auf Bahn zwei. Als der Holländer Marcel van der Westen einen Fehlstart verursachte, war auch Liu aus dem Block geschnellt. Drei Schritte, dann verzerrte er das Gesicht und schlich verzweifelt in die Katakomben. Auch die anderen Menschen strömten in Scharen davon, innerhalb von Minuten war das Stadion so schnell geleert, als hätte es eine Evakuierung gegeben. Aber für viele war ja tatsächlich eine Katastrophe passiert.
„Der Schmerz muss fürchterlich sein“, sagte Haile Gebrselassie, der alte Langstreckenläufer, später. Aber er meinte nicht die entzündete Achillessehne und die alte Knochenwucherung an der Ferse, die Liu zum Aufgeben zwangen. „Ich meine den Schmerz in seinem Kopf.“ Und vielleicht meinte er auch den Schmerz bei den Chinesen.
Erst am Sonntag bei der Schlussfeier wird das Olympische Feuer gelöscht. Für viele Chinesen endeten die Spiele bereits gestern, um 10 vor 12. Ihr Traum vom Gold ihres Idols, von dem sie seit vier Jahren nichts anderes erwarten als den Olympiasieg, war zerplatzt. Und als eine Stunde nach dem Unglück auch noch Lius Trainer einen ungeahnten Weinkrampf bekam, da hatten die Spiele von Peking ihren bislang emotionalsten Moment. Bisher hatte eher kontrollierte Fröhlichkeit die Stimmung beherrscht. Gestern zeigte China wirklich Gefühl. Gestern brach es aus ihnen heraus. Gestern brach die Fassade zusammen.
Liu Xiang sollte der Held der Spiele werden. Der Sohn eines Lastwagenfahrers und einer Kellnerin aus Shanghai, der als halbwegs Unbekannter 2004 Gold in Athen geholt hatte. Nach seiner triumphalen Rückkehr schrieb die Jugendzeitung der KP: „Liu Xiang, lehre uns 2008 fliegen.“ Gestern lehrte er sie weinen.
Das Gold von Athen wurde zum Fluch. Natürlich, er bekam damals viele Sponsorenverträge. Softdrinks, Milch, Kreditkarten, Autos, selbst für Zigaretten warb er und kassierte netto fünf Millionen Euro im Jahr. Doch so reich wie er wurde, so einsam wurde er auch. Abgeschottet in einem Zwei-Zimmer-Kabuff in der Sportschule von Shanghai, versorgt von eigenen Betreuern, eigenen Köchen, eigenen Ärzten. Ohne Freundin, was selbst Chinas Medien beunruhigte. Der halbamtliche „China News Service“ beklagte Lius „Leben als Mönch“ und meinte weiter, die Suche nach einer Frau, die ihn nicht des Ruhmes wegen begehrt, sei „so schwer wie die Suche nach der Nadel in einem Ozean“.
Und das alles nur für die Mission Gold.
Badminton, Turnen oder Tischtennis, wo China gestern im Mannschafts-Finale gegen Deutschland um Timo Boll erwartungsgemäß den Titel holte, das waren ihre ureigensten Sportarten. Dass sie das können, hatten sie schon früher bewiesen. Doch ein Spitzenstar in der Leichtathletik, der Kernsportart, das war neu.
Es ging hier um mehr als nur einen Olympiasieg. Es ging um ein nationales Selbstbewusstsein, zu zeigen, dass man auch in einer Sportart gewinnen kann, die bislang von Amerika und Europa beherrscht wurde. Liu Xiang sagte selbst nach seinem Triumph von Athen: „Ich kämpfe gegen das Vorurteil, dass Menschen mit gelber Hautfarbe nicht schnell rennen können.“ Und schnell rennen, das tat er oft. 2006 in Lausanne etwa, 12,88 – für zwei Jahre Weltrekord.
Hier in Peking sollte es die zweite Krönung Liu Xiangs werden. Am Mittwochabend beim Finale, wo Schwarzhändler bisher bereits bis zu 5000 Dollar pro Karte verlangten. Jetzt können sie die Tickets umsonst verteilen.
Eine knappe Stunde nach dem Aus, um viertel vor eins, saßen dann Chinas Cheftrainer Feng Shouyong und Lius Trainer Sun Haiping im großen Presseraum des Nationalstadions. Sun war der, der Liu mit 15 entdeckt hatte. Sun, der immer freudlos und verbissen wirkte, so wie man sich den Prototyp eines harten Kaderknochens aus einer chinesischen Sportschule vorstellt. Und dieser 53-jährige Mann, seit 1982 Trainer am Sport-Institut Shanghai, brach plötzlich in einen völlig ungeahnten Heulkrampf aus. Es menschelte in Peking.
„Es war von allen Seiten ein großer Druck“, sagte Chefcoach Feng, und erklärte, dass Liu nächstes Jahr zurückkehren werde. Nur wird er nie mehr in seinem Leben Olympia-Gold in Peking holen können.
Aber vielleicht lassen sie ihn jetzt in Zukunft wenigstens ein halbwegs normales Leben führen. Dass sie ihn raus lassen aus seinen zwei Zimmern, dass der Mönch aus seinem Kloster darf. Und dass er sie doch noch findet, die Nadel im Ozean.
Florian Kinast