TSV 1860 München: Wenn dir 14.000 Löwen zeigen, was im Fußball wirklich zählt

Gemeinsam mit 14.000 Löwen-Fans fahre ich zum Spiel des TSV 1860 beim 1. FC Nürnberg II. In zehn Stunden erlebe ich, worauf es im Fußball wirklich ankommt, was dieser in Menschen hervorruft - und was woanders längst aufs Spiel gesetzt wird.
von  Patrick Mayer
Heimspiel in Nürnberg: Rund 14.000 Sechzig-Fans begleiteten ihre Mannschaft zum ersten Spiel nach der Winterpause.
Heimspiel in Nürnberg: Rund 14.000 Sechzig-Fans begleiteten ihre Mannschaft zum ersten Spiel nach der Winterpause. © Sampics/Augenklick

Gemeinsam mit 14.000 Löwen-Fans fahre ich zum Spiel des TSV 1860 beim 1. FC Nürnberg II. In zehn Stunden erlebe ich, worauf es im Fußball wirklich ankommt, was dieser in Menschen hervorruft - und was woanders längst aufs Spiel gesetzt wird. Ein Erlebnisbericht.

Nürnberg/München - Ja, auch Sportjournalisten sind Fußball-Fans. So beginnt mein Samstag, es ist 8 Uhr am Morgen, erwartungsfroh. U2, Hauptbahnhof München, gerade noch den ICE erwischt. Hastig schreite ich durch die erste Klasse in Richtung Bordbistro. Großer Kaffee mit Milch, Laptop aufgeklappt, und da sind sie schon: die ersten Löwen-Fans.

Von freundlichen 1860-Fans

Drei Burschen, mitte Zwanzig, sitzen vor drei Bier, 0,3 Liter. "Greislig, dieses norddeutsche Pils", sagt der eine, die anderen nicken verständnisvoll. Ein älterer Herr, Brille, Sechzig-Mütze tief ins Gesicht gezogen, kommt in den Wagon. Er trägt Jogginghose, Turnschuhe, "Servus beianand", sagt er laut, bestimmt, freundlich.

Links und rechts sitzen zwei Ehepaare, Ende Vierzig, Designer-Mantel, die Männer Hemden, die Frauen Pumps und Ankle Boots. "Wieso grüßt der uns?", fragt die eine Frau irritiert. "Das ist ein Löwen-Fan", antwortet ihr Mann wie selbstverständlich. "Ich wusste gar nicht, dass die heute spielen." Ja, es ist schwierig in der Regionalliga Bayern den Überblick zu behalten.

Im Video: Die Stimmung vor und während dem Spiel

"Nächster Halt Nürnberg", dröhnt es aus den Lautsprechern. 11 Uhr, der Hauptbahnhof ist fest in Löwen-Hand. Schnell die U-Bahn zur Messe abgecheckt, verdammt, gerade weggefahren. Warten. Nach und nach säumt sich der Bahnsteig mit Sechzig-Fans.

1860-Fans dominieren Hauptbahnhof Nürnberg

Ungläubig schaut eine Rentnerin ihren Mann an. "Was ist denn da los?", fragt sie ihn. "Die Löwen spielen heute in Nürnberg", antwortet dieser wie selbstverständlich. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Ach, herrlich stimmungsvoller Fußball, denke ich mir. "Seeeeeechziiiiig, Müüüüüüüncheeeen", hallt es durch die Katakomben, als die U1 einfährt.

Schnell nach vorne gepitscht, rein, bevor die Masse kommt. "Bitte nicht hüpfen", sagt der Schaffner durch die Lautsprecher. Die Löwen? Hüpfen! Der Rentner? Lächelt noch immer. Ankunft an der Messe, ewig weiter Fußweg, doch da stehen sie: Hunderte, Tausende Anhänger des TSV 1860. Ein Security schüttelt den Kopf. "Wahnsinn", sagt er. Nochmal: "Wahnsinn."

Die blaue Wand in Nürnberg: Fans des TSV 1860 sorgen für eine einzigartige Atmosphäre. (Foto: imago)

Im Tross marschieren die Löwen zum Stadion. Dort angekommen schreite ich die Haupttribüne entlang. Und da ist sie: die blaue Wand. Größer, gewaltiger, imposanter, als ich sie mir zuvor vorzustellen vermochte. Rund 14.000 sind da! "Einmal Löwe, immer Löwe, hey, hey!" Ganze Blöcke hüpfen. Junge Burschen und Mädel, Kids, Cliquen, ganze Familien.

1860-Fans feiern Christian Köppel

"Sechzig ist der geilste Klub der Welt", singen sie. 'Da ist was dran', denke ich mir, mäßige mich. Fokus auf das Spiel. Sechzig rennt. Sechzig attackiert. Sechzig geht 2:0 in Führung. Gegenstoß, schneller Pass in die Schnittstelle, doch Christian "Köppi" Köppel kommt angegrätscht, bugsiert den Ball aus der Gefahrenzone.

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Die Löwen-Fans feiern diese Szene frenetisch, als wären sie gerade aufgestiegen. Dabei war es nur eine Grätsche. Ich blicke nach rechts. Ein Großvater klopft enthusiastisch einem Buben, wohl seinem Enkel, auf die Schulter. Der Lippenleser-Laie liest seine Lippen: "Siehst du, das ist Sechzig. Niemals aufgeben!" Artig nickt der kleine Bub mit dem Kopf.

Ob "Köppi" einer dieser Spieler ist, die für nur 1.800 Euro brutto für den TSV 1860 spielen, wie es Coach Daniel Bierofka einmal schilderte? 'Egal', denke ich mir, 'er ist einer von ihnen'. Mein Blick verliert sich. "Köppi, Köppi", schreit der alte Herr, "Köppi, Köppi", der Junge hinterher. Sie feiern jenen jungen Spieler, der stets von einem Privileg spricht, für Sechzig spielen zu dürfen, dessen Mutter seit Jahren eine Dauerkarte für die Löwen hat.

Leidenschaftlicher Daniel Bierofka

Vor mir tigert Bierofka durch seine Coachingzone. Ein Trainer, wie aus der Zeit gefallen. Ein Mann, der so hart und emotional für seinen Klub arbeitet, als habe er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Sechzig den verloren gegangenen Stolz wiederzugeben.

Ein Mann, der Profi war, Deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart, der sich wohl zurücklehnen könnte, der aber nicht kann, weil sie, die Löwen, ihn nicht mehr loslassen. Was für schöne Geschichten, was für eine Identifikation in Zeiten der Pierre-Emerick Aubameyangs, der Neymars, vergoldeter Sportwagen und teils hemmungsloser Selbstüberschätzung unter Fußballern.

Das Spiel endet 2:2. Ich sitze wieder im Zug nach München. Gedanken schießen mir durch den Kopf: GoPro-Cams an Weizengläsern, Bühnenauftritte in der Halbzeitpause, Fans bei anderen, prominenteren Klubs, die, mit Verlaub, vielleicht nicht mal fünf Spieler ihrer ersten Meistermannschaft zusammenbekommen. 'Schön, dass da noch Sechzig ist', sage ich mir, 'der Gegenentwurf, das Sinnbild für Zusammenhalt und Loyalität'. Schöne Eigenschaften.

"Mit 14.000 Löwen in Nürnberg"

Ein langer Tag neigt sich dem Ende zu. Der Abend: Pizzaessen mit Freunden, Zugeroaste, wie ich selbst. Wie mein Arbeitstag gewesen sei, werde ich gefragt. "Ich war mit 14.000 Löwen in Nürnberg", antworte ich. "14.000??? Aber die spielen doch nur noch vierte Liga?" "Ja", sage ich: "Aber bei Sechzig spielt all das keine Rolle."

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