Interview

"Unmengen an Stinkefingern": Christian Ude erinnert sich an "Todsünde" beim 1860-Aufstieg

Alt-Oberbürgermeister und Löwen-Fan Christian Ude spricht über den legendären 11. Juni 1994, als der TSV 1860 den Durchmarsch in die Bundesliga gelang, einen schlimmen Fauxpas auf dem Rathausbalkon und das Führungschaos bei seinen Löwen.
von  Florian Kinast
Zwei Löwen und ein Kaiser: Ude zusammen Franz Beckenbauer (†78) und Karl-Heinz Wildmoser (†71) beim Blick auf die Allianz Arena.
Zwei Löwen und ein Kaiser: Ude zusammen Franz Beckenbauer (†78) und Karl-Heinz Wildmoser (†71) beim Blick auf die Allianz Arena. © Imago

AZ: Herr Ude, in den 20 Jahren Ihrer Amtszeit war der FC Bayern Stammgast bei Ihnen im Rathaus. Elf Meisterschaften mussten Sie als Hausherr mit den Roten feiern, in Ihrem letzten Jahr als Münchens OB 2013 zu allem Überfluss auch noch das Triple. Einmal immerhin durften Sie auch Ihre geliebten Sechzger auf dem Rathausbalkon empfangen.

CHRISTIAN UDE: Gleich in meinem ersten Jahr als Stadtoberhaupt. Leider war es dann auch schon wieder das letzte Mal.

Haben Sie noch Erinnerungen an jenen 12. Juni 1994?

Aber natürlich. Wie könnte ich jenen Tag vergessen, an dem ich einen der schlimmsten Fehler meiner zwei Jahrzehnte als Münchens Oberbürgermeister beging. Von wegen, für einen Politiker ist es am einfachsten, über Fußball zu reden. Nirgendwo sitzt man auf so viel Dynamit.

Oha. Wieso denn das?

Dazu muss ich aber etwas ausholen.

Nur zu.

Als vor dem letzten Spieltag der Aufstieg der Löwen in greifbarer Nähe war, habe ich mit den Vorbereitungen für einen Empfang im Rathaus begonnen. Samt Eintrag ins Goldene Buch der Stadt und Feierlichkeiten auf dem Balkon vor den Fans unten auf den Marienplatz. Nachdem der FC Bayern damals zwar nicht jedes Jahr, aber doch sehr regelmäßig dort in Erscheinung trat, fand ich es nicht angemessen, diesen sensationellen und im deutschen Fußball damals einmaligen Durchmarsch der Sechzger von der damals drittklassigen Bayernliga in die Bundesliga so nebenbei abzutun. Doch das sorgte schon gleich einmal für heftige Kritik.

Für 1860-Empfang im Rathaus kassierte Ude Kritik und Lob aus allen Ecken der Politik

Von wem? Vom FC Bayern?

Von der Säbener Straße kam kein Mucks, dort wurde das vermutlich achselzuckend mit einem müden Lächeln wahrgenommen. Nein, die Kritik kam aus meinem eigenen Haus. Aus der Stadtverwaltung, vom protokollarischen Dienst, von der Rechtsaufsichtsbehörde und aus einzelnen Fraktionen.

Auch aus Ihrer SPD?

O ja, von denen, deren Herz nicht nur in der Politik rot schlug, sondern auch im Fußball. Dafür wiederum bekam ich auch Unterstützung von einigen Schwarzen, die Blaue waren, kurzum, dem durchaus starken Löwen-Flügel aus der CSU-Fraktion.

Und warum gab es Kritik?

Weil viele den Aufwand für nicht gerechtfertigt hielten. Titel und Trophäen, so die Argumentation, wären ein berechtigter Anlass für einen feierlichen Empfang mit allem üblichen Pomp. Aber nicht ein Bundesliga-Aufstieg. Ich wischte trotzdem jegliche Einwände beiseite und begann mit den Planungen für den 12. Juni, in der Hoffnung auf einen Sieg des TSV beim alles entscheidenden Spiel in Meppen.

Ude über die 1860-Party am Marienplatz: "Ich habe eine Todsünde begangen"

So wie es dann auch kam. Das Tor durch Peter Pacult, dritte Minute.

Und so konnte die blaue Party dann beginnen. Ich werde nie diesen Blick auf das blaue Meer da unten auf den Marienplatz vergessen. 30.000 Fans, dicht an dicht, links vom Ludwig Beck bis rüber zum Donisl und hinter durch das Rosental Richtung Sendlinger Straße. Die glückseligen Gesichter jener Fans zu sehen, die im Jahr zuvor noch über die Dorfplätze des Freistaats getingelt waren, von Lohhof bis Frohnlach, von Starnberg bis Eching, und die sich nun über die Rückkehr in die Bundesliga freuen durften, auf Spiele gegen Dortmund, Hamburg, Schalke und einen Stadtteilklub aus Harlaching, das war sehr bewegend.

Sie sprachen anfangs von einem Ihrer schlimmsten Fehler, was haben Sie denn dann falsch gemacht?

Ich habe eine Todsünde begangen. Übermannt vor lauter Euphorie dachte ich mir gleichzeitig: Vorsicht, Ude! Jetzt musst du aufpassen! Mir kamen all jene Nörgler aus der Stadtverwaltung in den Sinn, die mich wegen der pompösen Pläne kritisiert hatten, weshalb ich wie vom wilden Affen gebissen glaubte, vereinspolitische Unabhängigkeit wahren zu müssen und daher aufgrund der in jenem Jahr mal wieder gewonnen Meisterschaft des FC Bayern mit den Worten anhob: "Liebe Freunde, wir wollen nicht vergessen, dass in dieser Saison auch die Roten…"

Ja, um Himmels Willen. Was für ein Wahnsinn. Wie konnten Sie nur diese Farbe, deren Namen man vor so einem Publikum nicht sagen darf, in den Mund nehmen?

Das frage ich mich heute noch. Weiter als "…die Roten…" bin ich auch nicht gekommen. Ein Aufschrei des kollektiven Schmerzes aus 30.000 Kehlen transformierte in Sekundenschnelle in Entsetzen, Wut und Zorn. Pfui, buh, nieder, das war das harmloseste Vokabular, das ich aus dem Stimmengewirr akustisch herausfiltern konnte. Ich ging instinktiv zwei Schritte zurück, doch immer, wenn ich mich der Brüstung wieder näherte und wieder sichtbar wurde, nahm der Protest wieder an Fahrt auf. Ich sah Unmengen an Stinkefingern, die sich mir entgegenstreckten, und nach unten deutende Daumen, das ich damals noch nicht als Facebook-Dislike kannte, sondern als die altrömische Geste für: Henkt ihn, verbrennt ihn, er hat sein Leben verwirkt.

1860-Präsident Wildmoser rettete Ude "mit seiner Löwenpranke" und genialer Rede

Unfassbar, dass Sie diesen Tag dann doch ohne schwerwiegende Folgen für Leib und Leben überstanden. Wie konnten Sie sich aus der misslichen Lage retten?

Das habe ich dem Wildmoser zu verdanken.

Ernsthaft?

Ja. Mit jener Derbhaftigkeit, zu der er ja durchaus neigen konnte, hat er mich einfach gepackt und mit seiner Löwenpranke weggeschoben. Dass ihr Präse mit dem Trottel, der das R-Wort unbedingt erwähnen musste, herzhaft rustikal umging, hob die Stimmung bei der breiten Masse unten am Marienplatz schon wieder beträchtlich. Und dann hielt der Wildmoser eine so geniale Rede, bei der er allein schon aufgrund der Auswahl seiner Worte das fauchende Löwen-Rudel wieder besänftigte.

Was sagte er denn?

"Bevor jetzt…", hob er an, da war klar, es kommt gleich etwas anderes, "…unser Mitglied, der OB…", damit begriff auch der Dümmste: Ah, der Ude gehört doch zu uns, der ist gar kein Roter, der redet nur so saublöd daher, "…mit seiner kurzen Ansprache…", ein Glück, es dauert nicht mehr lang, "…zu Ende kommt…", da atmeten alle auf, "…singen wir gemeinsam: So ein Tag, so wunderschön wie heute…" Und die Fangemeinde stimmte ebenso laut wie glücklich ein: "…der dürfte nie vergeh'n!"

Sind Sie nochmal ans Mikrofon?

Ja, bin ich. Aus dem Bewusstsein heraus, nur keine falschen Farben mehr ansprechen zu dürfen, habe ich mich für das risikofreie Rezitieren einiger bekannter Worte entschieden. "Einmal Löwe,…" Und alle: "immer Löwe". Oder: "Zweite Liga…" Und alle: "…nie mehr!" So funktionieren große Fußball-Reden!

Meister-Feiern der Bayern? Ude: "Mir wäre ein freier Tag da viel lieber gewesen"

Trotzdem bitter, da hatten Sie schon einmal die Löwen auf dem Balkon, und selbst dann wurden Sie ausgebuht. Bei den Feierlichkeiten des FC Bayern gehörte das ja zum guten Ton dazu.

Da war ich es ja gewohnt, dass sie mich schmähten und vom Hof jagen wollten. Die Fans da unten haben sich dann immer gefragt, was macht ein Blauer wie der Ude bei unserer Feier? Und ganz ehrlich, ich habe mich das auch immer gefragt. Mir wäre ein freier Tag da viel lieber gewesen anstatt mir immer die obligatorischen Prügel einzufangen.

Wenn Sie nicht da waren, war's aber auch nicht recht. Als Sie 2008 der Meisterfeier wegen Ihres Urlaubs in Mykonos fernblieben, erteilte Ihnen Karl-Heinz Rummenigge auf dem Rathausbalkon einen Rüffel.

Was ich schon unangemessen fand. Ich hatte sie ja zum gewünschten Empfang eingeladen, und war außerdem mit einem Auslandsaufenthalt überzeugend entschuldigt. Und außerdem hatte ich ja meinen Stellvertreter geschickt.

Löwen-Fan Ude: "FC Bayern ließ mich mit einer Privatmaschine nach Berlin fliegen"

Hep Monatzeder. Auch ein Blauer.

Genau! Ich dachte mir, den können sie doch auch auspfeifen, wenn sie unbedingt einen dafür brauchen. Ich fand es schon sehr erstaunlich, dass mich die Bayern immer dabei haben wollten. Auch bei Endspielen im DFB-Pokal. Einmal hatte ich tatsächlich an einem Samstag einen wichtigen Gremientermin, den ich auf keinen Fall versäumen durfte und der eine rechtzeitige Anreise unmöglich machte. Doch der FC Bayern beharrte darauf und ließ mich mit einer kleinen Privatmaschine nach Berlin fliegen. Zusammen mit Edmund Stoiber übrigens.

Eine Maschine nur für Sie beide?

Ja, wobei neben dem Pilot auch eine Stewardess dabei war. Ich glaube, dass Stoiber ganz froh war über meine Begleitung, dann war der Flug kein Privileg mehr für den Verwaltungsratsvorsitzenden des FC Bayern und auch keine Sonderbehandlung für den Ministerpräsidenten.

Ude: "Aufstiegsfeier mit 1860 eine Reifeprüfung für meine weitere Laufbahn als OB"

Zurück zu 1994, was haben Sie von Ihrem denkwürdigen Balkonauftritt mitgenommen für Ihre politische Laufbahn?

Sehr viel. Dieser Tag, aber auch die Meisterfeiern vor pfeifenden Bayern-Fans haben mich abgehärtet, um alle Proteste und Widerstände auf Demonstrationen, Kundgebungen oder Bürgerversammlungen locker wegzustecken. Nie vergessen werde ich einen Tag in Pasing. Damals ging es im Rahmen der Neueinteilung der Stadtgebiete um die Zusammenlegung der Stadtviertel von Pasing und Obermenzing zu einem Stadtbezirk. Was hat da die örtliche CSU protestiert. Die gingen auf die Barrikaden, als hätte man ihre Hütten angezündet oder die Kinder geraubt. Am Ende gab es sogar einen Antrag, im Falle der Fusion mit Obermenzing die Landeshauptstadt zu verlassen und sich als ausgegliederter Ort wieder unabhängig zu machen.

Das Katalonien Münchens.

So in etwa. Die Stimmung war also mächtig aufgeheizt, als es im alten Gasthaus Zur Post zur Bürgerversammlung kam. Aber gestählt von den Fußballfeiern ging ich unter dem ohrenbetäubenden Protest des Publikums ans Rednerpult und sagte nur: "Entschuldigt mal, ihr glaubt doch selbst nicht, dass ich mich von euch 300 Hansln einschüchtern lasse, wo ich mich jedes Jahr von 30.000 Bayern-Fans auf dem Marienplatz beschimpfen lassen muss." Damit war die Luft raus, sie fühlten sich so blamiert und lächerlich gemacht, dass sie den Antrag wieder zurückzogen. Und natürlich war auch die Aufstiegsfeier mit 1860 eine Reifeprüfung für meine weitere Laufbahn als OB. Dass er mich damals rettete, dafür bin ich Wildmoser immer noch dankbar.

Ude: "Wildmoser packte andere Mitglieder im wahrsten Wortsinn an der Krawatte"

Wie war denn Ihr Verhältnis ganz allgemein?

Im Zuge der Korruptionsaffäre beim neuen Stadion trübte sich unser Verhältnis natürlich ein. Dass der alte Wildmoser, der alles allein entscheiden wollte, nichts davon gewusst haben sollte, wenn "sein Bub" sich heimlich in die Geschäfte einmischte, das mochte ihm juristisch nicht zu widerlegen gewesen sein, überzeugt hatte es mich nicht.

Haben Sie sich danach mal ausgesprochen?

Manchmal sind wir uns noch über den Weg gelaufen, auf der Wiesn kam er einmal zu mir, sagte: "Christian, jetzt trink ma an Schluck, es kann doch ned ewig so weitergehn." Dann haben wir zusammengesessen und getrunken, aber so richtig innig wie früher wurde unsere Beziehung nicht mehr. Damals in den Neunziger Jahren aber war er genau der richtige Mann am richtigen Ort. Als Autoritätsperson mit dieser stattlichen Physis und einer wuchtigen Ausstrahlung. Wenn Wildmoser einen Saal betrat, dann änderte sich schlagartig die Stimmung, dann ging ein Raunen durch den Raum. Ui, der Präse. Und in meiner Funktion im Aufsichtsrat habe ich es oft erlebt, dass er, wenn ihm etwas nicht passte, andere Mitglieder im wahrsten Wortsinn an der Krawatte packte und sie gehörig durchschüttelte mit Worten wie: "Du, wenn du des no oamoi sogst". Oder "Di wenn i no oamoi derwisch."

Sie auch?

Nein. Bei mir nicht. Er wollte mich als OB ja unbedingt im Aufsichtsrat haben, so wie Stoiber beim FC Bayern ein Aushängeschild war. Das musste dann auch respektvoll behandelt werden.

Aufsichtsrat beim TSV 1860? "Dass es mir aber wirklich Spaß gemacht hätte, wäre schon übertrieben"

Dennoch muss Ihre Zeit im Aufsichtsrat des TSV 1860 eine harte Prüfung gewesen sein. So drunter und drüber, wie es bei all den Turbulenzen dort immer ging.

Ich möchte die Zeit trotzdem nicht missen. Dass es mir aber wirklich Spaß gemacht hätte, wäre schon übertrieben. In jener Zeit waren die beiden Fanlager unversöhnlich zerstritten. Es gab die Pro1860-Fraktion, die aber nie für irgendetwas war, sondern immer gegen die anderen, wurscht was. Und es gab die Arge, die Kurzform von Arbeitsgemeinschaft. Nur dass die Arge nie gearbeitet hat, sondern immer nur gezündelt und Konflikte vom Zaun gebrochen. Es war extrem mühsam.

Aber Streit im Fanlager und in der Führungsebene gibt es ja heute immer noch. Wie verfolgen Sie denn das nicht enden wollende Chaos beim Löwen?

Mit Fassungslosigkeit und großem Kopfschütteln. Sehr gefreut habe ich mich 2015, als ich mit dem "Münchner Bürgerpreis für Demokratie" ausgezeichnet wurde, eine Ehrung der Stiftung von Hildegard Hamm-Brücher gegen Rechtsextremismus und Fremdenhass. Mit mir erhielten auch die "Löwenfans gegen rechts" diesen Preis, eine schöne Koinzidenz, die zeigte, dass es innerhalb des Vereins auch engagierte Menschen gibt, die unbeirrt für Toleranz und gesellschaftliches Miteinander einstehen. Was aber die Polarisierungen angeht innerhalb der Führung zwischen Präsidium und Investor, da ist mir längst die Lust vergangen, mich mit diesem Unfug dort weiter zu beschäftigen.

Denken Sie manchmal, Sie hätten es leichter gehabt, wären Sie ein Bayern-Fan geworden?

Die Option bestand für mich nie. Ich bin als Protestant im katholischen Bayern aufgewachsen und bin der bayerischen SPD beigetreten, ich hab's mir noch nie leichtgemacht. Deswegen waren die Löwen die einzig logische Konsequenz.

Wie geht es eigentlich Ihrem Nachfolger Dieter Reiter, einem glühenden Bayern-Fan? Erstmals in seiner Amtszeit bleiben die Männer des FC Bayern in einer Saison titellos, stattdessen durfte er immerhin die Meisterinnen der roten Frauen auf den Balkon geleiten.

Damals verstand man ja unter "Spieler-Frauen" nur die Frauen der Spieler, heutzutage hingegen die siegreichen Spielerinnen - im Gegensatz zur Tristesse der Männer. Ich gebe zu: Das hätte ich schon auch gerne im Rathaus gewürdigt.

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