Lienen: "Wird Demokratie abgeschafft, kriegt’s die Hälfte gar nicht mit"
Ewald Lienen muss sich manchmal gehörig aufregen. Über Politiker, Banker und Manager. Mit der AZ hat er über alles gesprochen – außer über Fußball und den TSV 1860.
MÜNCHEN Ewald Lienen kommt in Lederhosen und Haferlschuhen. „Ich finde die Hose sehr warm und bequem, und meine Frau sagt, dass sie mir steht", meint der Ostwestfale. Die AZ hat ihn um eine Blattkritik in der Morgenkonferenz gebeten. Beim Durchblättern der Zeitung bleibt der 1860-Trainer an einer Überschrift hängen. „Merkel spricht ein Machtwort“, liest er vor, blickt auf, setzt die Lesebrille ab, fragt in die Runde: „Ist sie aufgewacht?“ Eine Antwort erwartet er gar nicht.
Der frühere Linksaußen, der in den 80er Jahren in der Friedensbewegung aktiv war, ist jetzt im Element: Er will nicht über Fußball reden, sondern über Politik. Lienen hebt zur Generalkritik an.
Herr Lienen, was stört Sie an der Politik und der Berichterstattung darüber?
EWALD LIENEN: Die Politik ist dabei, ihre Legitimation zu verspielen, weil sie aufgrund der Haushaltslage längst nicht mehr in der Lage ist, viele Interessen der Menschen zu vertreten. Es gibt immer noch nicht die längst überfällige und radikale Bankenaufsicht. Wir haben weder national noch international notwendige Regularien durchgesetzt, um die gefährlichen Spekulationsblasen zu verhindern, die ein ansonsten funktionierendes Wirtschaftssystem in die Totalkrise stürzen können. Denn das ist passiert. Und noch immer bekommen diese Leute, auch Manager von Unternehmen, die das Ganze mitverursacht haben und sich auf Kosten von Arbeitsplätzen verspekuliert haben, riesige Boni in Millionenhöhe.
Auf wen zielen Sie da ab?
Nehmen Sie Wendelin Wiedeking (ehemaliger Porsche-Chef, die Red.). Er wollte ein funktionierendes Unternehmen wie Porsche dazu bringen, VW zu übernehmen, und hat so tausende Arbeitsplätze gefährdet. Er wurde noch mit Boni in zweistelliger Millionenhöhe verabschiedet. Für mich ist das ein Skandal, auch wenn er die Hälfte des Geldes gespendet hat. Ich halte es für notwendig, dass wir uns bewusst machen, dass die Politiker bislang zu wenig dagegen tun. Sonst sind wir, fürchte ich, bald nicht mehr in der Lage, einen Kollaps des Wirtschaftssystems aufzuhalten.
Die Bundesregierung hat während der Finanzkrise Banken verstaatlicht.
Ich glaube nicht, dass es darum gehen sollte, etwas zu verstaatlichen. Dann müssten unsere Landesbanken ja die besten Banken sein. Bei den Landesbanken arbeiten die gleichen Spekulanten wie in vielen anderen Banken auch. Diesen Menschen geht es mehr um Raffgier als darum, im Interesse der Gesellschaft zu handeln.
Herr Lienen, Sie klingen ganz schön aufgebracht, so, als ob Sie gleich Klassenkampfparolen auspacken würden.
Ich habe nichts gegen Gewinn, so funktioniert Wirtschaft nun mal. Viele Unternehmer oder Menschen, die einen Familienbetrieb führen, müssen für Fehler persönlich gerade stehen und verlieren ihr eigenes Geld. Diese Investmentbanker aber, die mit fremdem Geld spekulieren, können die Volkswirtschaft gefährden und gehen noch mit Millionen Boni nach Hause. Und keiner tut etwas dagegen.
Wieso nicht?
Keine Ahnung. Aber ich glaube, wenn wir heute die Meinungsfreiheit und die Demokratie abschaffen würden, würden das vielleicht 50 Prozent der Menschen gar nicht mitbekommen.
Vielleicht würden sie es doch irgendwann in einer Soap-Show auf RTL 2 erfahren.
Ja, das mag sein.
Fühlen Sie sich eigentlich von irgendeiner Partei vertreten?
Mir ist es nie um Parteipolitik gegangen, sondern um Inhalte. In jeder Partei findet man positive Ziele, für die es sich lohnt, sich einzusetzen.
Aber Sie haben 1985 mit der Friedensliste bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kandidiert.
Wir haben nicht ernsthaft geglaubt, dass wir in den Landtag kommen. Wir wollten die Belange der Friedensbewegung im Wahlkampf vertreten. Ich war in der Friedensbewegung aktiv, das ist eine Sache, auf die ich stolz bin. Wir waren damals Millionen, und ich glaube, dass das die Gesellschaft verändert hat, dass unser Kampf etwas bewirkt hat. Später habe ich die Grünen-Bewegung unterstützt, auch wahltechnisch.
Und Ihre Kandidatur?
Wir wollten das Thema Frieden in den Wahlkampf tragen, also haben wir die Friedensliste gegründet, und ich war einer der drei Spitzenkandidaten in NRW. Der Jupp Heynckes, der damals mein Trainer in Mönchengladbach war, stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch
Wie viele Stimmen haben Sie bekommen?
Ich hatte von unseren Leuten das beste Ergebnis in Mönchengladbach; es müssen wohl um die zwei Prozent gewesen sein.
Immerhin. Sie haben einmal gesagt, dass wir in Deutschland in gar keiner Demokratie leben würden. Wie meinten Sie das?
Die Demokratie basiert auf Freiheit, also auch auf der Freiheit, sich nicht daran zu beteiligen. Tja, so ist das mit der Demokratie. Die Menschen dürfen mitreden, aber sie nutzen es zu wenig.
Verraten Sie uns, was Sie noch aufregt?
Dass wir keinen Handlungsspielraum mehr haben, dass wir alles nur auf Pump finanzieren. Wann hatten wir in Deutschland den letzten ausgeglichenen Haushalt? 1968? 1969? Eigentlich müsste ich jetzt sogar Franz-Josef Strauß selig loben, der damals Finanzminister war. Bund, Länder und Kommunen sind heute nicht mehr in der Lage, sinnvolle Dinge zu finanzieren. Die Politik ist deshalb nicht in der Lage, die vielen Baustellen in den Griff zu kriegen. Es gibt kein Geld, um zum Beispiel mehr Sportlehrer einzustellen oder um bessere Sportförderung in den Vereinen zu betreiben. Viele Kinder haben eine Sportstunde in der Woche. Für mich ist das ein Skandal. Es ist ja erwiesen, dass du dich besser konzentrieren kannst, wenn du Sport treibst – und damit natürlich auch gesünder lebst.
Ist Sport heute unwichtiger als früher?
Jedenfalls sind die Kinder von heute oft zu dick. Als ich in der Schule war, gab es in jeder Klasse nur einen Dicken. Der war die ärmste Sau und wurde ausgelacht. Heute gibt es in jeder Klasse vielleicht einen richtig Dünnen. Mit dem wenigen Geld, das wir noch haben, fördern wir den Hochleistungssport. Und wir Couch Potatoes sitzen dann zu Hause und freuen uns, dass „wir“ den Biathlon-Wettbewerb gewonnen haben. Dabei hat die deutsche Sportjugend seit Jahrzehnten fantastische Arbeit geleistet, sie hat Ideen und Projekte entwickelt, die auch die Demokratie gefördert haben, aber nicht mehr in ausreichendem Maße finanzierbar waren.
Ein Beispiel, bitte.
Ich war damals in Bielefeld-Sennestadt in einem Sportverein mit 14 Sportarten und ebenso vielen Jugendabteilungen. Und jede Abteilung hat zwei gewählte Jugendvertreter in ein Plenum entsandt, das dann über einen Jugendetat von damals 70000 Mark entscheiden durfte. Das war toll. Der Verein hat damals neben dem Sporttreiben auch viele anderen Aktivitäten angeboten wie Freizeitgestaltung, politische Bildung und auch internationale Jugendbegegnungen organisiert. Ich war so als Jugendlicher zwei Mal in Dänemark. Und 1970, zwei Jahre nach dem Prager Frühling, sind wir nach Tschechien gefahren. Wir alle mit langen Haaren, Bärten, Ketten, Ringen. Wir sahen aus wie die Leute, die Franz Josef Degenhardt in seinem Kriegsdienstverweigerer-Lied beschreibt.
Und heute?
Der Staat ist immer weniger in der Lage, Sportanlagen zur Verfügung zu stellen, zu renovieren oder aufrecht zu erhalten. Sport findet – gerade in Städten – immer mehr in kommerziellen Sportzentren statt. Die Sportvereine müssten aber mehr gefördert werden. Wir vergeben sonst die Chance, unsere Jugendlichen über Sport zu erziehen. Und das Bildungssystem versagt, weil es nicht in der Lage ist, den Kindern beizubringen, dass sie sich bewegen und ordentlich ernähren müssen.
Reden Sie mit Ihren Spielern eigentlich auch über solche Dinge?
Im Einzelgespräch kann das vielleicht mal vorkommen, zum Beispiel beim Spazierengehen. Aber ich kann mich nicht vor die Mannschaft stellen und den mir Schutzbefohlenen erzählen, wie ich die Welt sehe oder verbessern möchte. Irgendein englischer Fußballphilosoph hat mal gesagt: „Im Fußball geht es nicht um Leben und Tod, es geht um viel mehr.“
Aufgezeichnet von Filippo Cataldo