Grünwalder: Im Strafraum lauerte der Tod
München - Alles haben sie mitgenommen. Die Stühle, die Bänke, die Schalensitze, die Eckfahnen, die Schilder, die Telefone und natürlich den Rasen. Stück für Stück. All das wurde am vergangenen Sonntag unter den Fans, überwiegend Sechzgern, versteigert – wegen des Umbaus. Dann blieb im Grünwalder Stadion eigentlich nur noch Beton übrig. Und die Fliegerbombe direkt unterm Spielfeld. Im Strafraum.
Seit dem Zweiten Weltkrieg lag sie unterm Rasen. Hier, im „Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße 10“, tänzelte 1960 Weltstar Pelé mit seinem FC Santos übers Gras, hier wurden die Löwen 1966 Deutscher Meister, hier fanden nach 1943 insgesamt 14 Länderspiele statt. Hier wurde Fußballgeschichte geschrieben. Auf 225 Kilo Sprengstoff.
Gestern Nachmittag wird die Bombe gefunden. Die Stadt lässt das marode Stadion derzeit für zehn Millionen Euro modernisieren, 2013/14 sollen hier wieder Drittligaspiele stattfinden.
Gegen 14.50 Uhr sticht ein Baggerführer mit seiner Schaufel im Strafraum zur Grünwalder Straße in die Erde. In ein- bis eineinhalb Metern Tiefe stößt er auf eine Fliegerbombe – über vier Zentner Tod in einer Metallhülle. Das verdächtige Objekt war bei Luftbildern, die im Zuge der Bauarbeiten routinemäßig gemacht werden, entdeckt worden. Es ist tatsächlich eine Bombe.
Nach dem Notruf um 14.58 Uhr rast die Polizei sofort zum Stadion. Die „Kampfmittelbeseitigung Tauber“ aus München räumt die Erde rund um die Bombe frei.
Um 19 Uhr will sie mit der Entschärfung beginnen. Zuerst aber müssen die Menschen rund ums Stadion in Sicherheit. Ab 17.45 Uhr durchkämmen Polizisten im Bereich zwischen Grünwalder Straße, Wettersteinplatz im Süden, Wirtstraße im Norden und Candidstraße bis hinunter zum Candidplatz ab. Sie klingeln an den Häusern. 197 Einwohner müssen ihre Wohnungen verlassen.
Einige von ihnen versammeln sich in der Fromund-Grundschule am Wettersteinplatz. „Die anderen sind in einen Biergarten oder in die Stadt gefahren“, erzählt dort die Rentnerin Anna-Maria Strauss (64). „Wir sehen das alles ganz gelassen. Bei uns wurde geklingelt, und dann wurden wir in die Schule geleitet. Ich habe keine Angst, bin aber schon froh, wenn ich wieder nach Hause darf.“
Rotes Kreuz und Feuerwehr haben Biertische in der Schule aufgestellt. Es gibt Kleinigkeiten zum Essen. Und Tee. Anderthalb Stunden harren die Anwohner in der Schule aus.
Währenddessen machen sich die Experten an die Arbeit. Gegen 19 Uhr stellt die Polizei Straßensperren auf. 70 Beamte, 30 Feuerwehrler und Sanitäter sind im Einsatz. Es geht los. Der 38-jährige Sprengmeister Martin Tietjen, bayernweit im Einsatz, entschärft die Bombe. „Es sind amerikanische Standard-Sprengzünder, das hat die Arbeit schon erleichtert“, sagt er später.
Mit diesen Exemplaren hat Tietjen Erfahrung. „Deswegen haben die Hände auch nicht gezittert. Im Jahr entschärfe ich etwa 100 solcher Bomben.“ Mit einem Magnetometer wird die Fundstelle genau lokalisiert.
Bald ist klar: Die Bombe ist in einigermaßen gutem Zustand erhalten. Auch das erleichtert die Arbeit der Sprengmeister. „Je nach Zustand der Bombe hätte die Entschärfung ganz anders ausgehen können“, sagt Martin Tietjen. „Wäre sie losgegangen, würde das Grünwalder Stadion jetzt nicht mehr stehen.
Die Splitter wären bis in die erste Häuserzeile geflogen.“ Das Hauptziel bei jeder Bombenentschärfung ist es, die Sprengkette zu unterbrechen, um die Bombe transportfähig zu machen. Innerhalb von 25 Minuten hat der Sprengmeister die beiden Zünder abgeschraubt. Jetzt kann sie weggeschafft werden – an einen Ort, wo sie unter Aufsicht ausbrennen wird.
Daher stammt die Bombe
In den USA hergestellt – und im Herbst 1943 von Engländern abgeworfen.
Bei dem Sprengkörper, der im Sechzger-Stadion gefunden worden ist, handelt es sich um eine von der britischen Luftwaffe abgeworfene Fliegerbombe, allerdings eine aus amerikanischer Produktion. Abgeworfen wurde sie bei einem der beiden Fliegerangriffe am 7. September oder am 2. Oktober 1943.
Am 7.September knallte eine Bombe auf die westliche Hälfte der Sitztribüne. Weitere Sprengkörper jagten Teile der Stehhalle in die Luft. Der zweite Angriff am 2. Oktober hinterließ auf dem Spielfeld, der Aschenbahn und den Stehwällen sieben große Bombentrichter. Das Stadion war endgültig unbespielbar.
1945 kam es zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs im notdürftig hergerichteten Stadion, das fortan Städtisches Stadion an der Grünwalder Straße hieß. 1951 erfolgte die Fertigstellung der Wiederaufbauarbeiten an den Tribünen. Die Stehhalle und Haupttribüne wurden größtenteils nach den Plänen von 1925 instandgesetzt.
Bis 1959 wur- den die Kurven (bisher nur Stehwälle) mit aufgeständerten Tribünen in Stahlbetonbauweise errichtet. Die Flutlichtanlage auf vier Masten, die die provisorische Beleuchtung von 1955 ersetzte, folgte 1959.