FC.-St.-Pauli-Boss Andreas Rettig im AZ-Interview über den TSV 1860 München
AZ: Herr Rettig, rein sportlich haben Sie beim 2:1-Sieg des FC St. Pauli beim TSV 1860 ein Erfolgserlebnis gefeiert. Was hat Sie dennoch dazu veranlasst, in der Öffentlichkeit Kritik an Sechzig zu üben?
ANDREAS RETTIG: Dieser Sieg gegen einen direkten Konkurrenten war enorm wichtig. So haben wir auch den Druck auf die Löwen erhöht, konnten wir doch auf einen Punkt herankommen. Im Nachgang des Spiels haben mich die nicht hinnehmbaren Erfahrungen, die wir rund um unser Spiel am vergangenen Wochenende machen mussten, dazu veranlasst, zu reagieren.
Sie haben erklärt, "unliebsame Erfahrungen mit dem Geschäftsgebaren und dem Umgang der Verantwortlichen" gemacht zu haben: Interviewanfragen der Medienabteilung seien nicht beantwortet worden, und Ihre Vereinsvertreter auf den Rängen hätten erst nicht jubeln und später ihre Sitzplätze verlassen sollen. Wie können Sie sich ein solches Verhalten erklären?
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass solch ein Verhalten für mich nicht zu erklären ist.
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1860-Präsident Peter Cassalette hat Ihnen schlechten Stil unterstellt, Ismaik als "Bösewicht" hinzustellen – und Ihnen vorgeworfen, Ihre Aussagen nur getätigt zu haben, um "indirekt Einfluss auf den Abstiegskampf" zu nehmen.
Weder habe ich dafür gesorgt, dass vereinbarte Interviews des Klubs nicht bei uns ankamen, noch habe ich den Ordnungsdienst gebeten, unsere Gremienmitglieder von den Plätzen zu verweisen. 1860 hat im Hinspiel alle Annehmlichkeiten und unsere Gastfreundschaft in vollen Zügen in Anspruch genommen. Hierfür hatte sich Herr Cassalette mehrfach bedankt. Der Abstiegskampf wird im Übrigen auf dem Platz entschieden, zumindest nach unserem Verständnis.
Wie beurteilen Sie Ismaiks Wirken bei den Löwen vor diesem Hintergrund?
Ich kenne Herrn Ismaik nicht und kann nur die Ergebnisse und Erfahrungen der aus meiner Sicht investorengesteuerten Geschäftsführung beurteilen. Was ich zu Ismaik sagen kann: In meiner Zeit als DFL-Geschäftsführer gab es die Bitte, mit uns in Kontakt zu treten. Das haben wir ganz einfach deshalb abgelehnt, weil er kein Vereinsvertreter ist und wir uns nur mit der Geschäftsführung eines Klubs an den Tisch setzen. Oftmals hilft ein Blick in die Statuten: Die Entscheidungsträger sind die Klubvertreter – nicht die Investoren.
Ismaik dürfte Gesprächsbedarf über die – ihn als Geldgeber einschränkende – 50+1-Regel gehabt haben. Sie haben all jene, "die nach Investoren schreien", gewarnt.
Ich kann den auch von einigen Kollegen geäußerten Wunsch, 50+1 muss fallen, nicht verstehen. Was würde passieren: Wir wären alle auf der Jagd nach dem größten und reichsten Oligarchen – ist das der Weg? Dann wäre die Bundesligatabelle kein sportliches Abbild mehr, sondern eine Forbes-Tabelle, eine Finanz-Tabelle. Dem kann ich nichts abgewinnen. Wir haben in Deutschland einen guten Weg beschritten: in den Nachwuchs investieren, eine gute Trainerausbildung, ein strenges Lizenzierungsverfahren, alles mit 50+1 – und nebenbei sind wir noch Weltmeister geworden.
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Sechzig hat sich mitten im Abstiegsrennen nicht nur mit Startrainer Vitor Pereira, sondern auch mit vier teils teuren Winter-Neuzugängen verstärkt, im Sommer soll ein neuer Angriff auf die Aufstiegsplätze folgen.
Die Mannschaft hat ohne Wenn und Aber an Qualität gewonnen, das muss man neidlos anerkennen. Bei dem wahnsinnigen Kapitaleinsatz ist das nicht verwunderlich. Ob es sich in sportlichem Erfolg niederschlägt, wird man sehen.
Sie haben an die Verbände nach einem "konsequenteren Eingreifen" appelliert. Welche Maßnahmen halten Sie hierbei für angebracht?
Ich würde mir wünschen, dass es eine enge Auslegung und Sanktionierung der Satzungen und Ordnungen durch die Verbände gibt.
Sechzigs Wurzeln liegen auf Giesings Höhen, bei einem bodenständigen Arbeiterverein. Wie viel Identität ist den Löwen durch den Einstieg von Ismaik verloren gegangen?
Die herkömmlichen Löwen waren ein Traditionsverein mit einer unglaublichen Fanbasis. Viele Dinge, die dort passiert sind, hatten negative Auswirkungen. Aber da müssen Sie am besten die Fans fragen. Wir werden unsere Politik fortführen, die geprägt ist von wirtschaftlicher Vernunft und das unterscheidet uns von den Sechzgern.
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Diese haben sich von sämtlichen anderen Profivereinen zuletzt auch durch ihre Abschottung abgehoben.
1860 verstehe da, wer will. Wir sind in einem Bereich tätig, der von der Öffentlichkeit lebt. Da fehlt mir tatsächlich das Verständnis, sich so zu präsentieren. Man sieht auch in anderen Bereichen, dass die Pressefreiheit ein hohes Gut ist und das sollten wir alle pflegen.