Der ganz normale 1860-Wahnsinn

München - „Einschlafen? Ist mir schwergefallen. Ich glaube, es war zwei Uhr“, sagte Torsten Fröhling am Montag. Kein Wunder, bei dem irrwitzigen Achterbahnritt, den der Löwen-Trainer tags zuvor erlebt hatte: Sein Team, das am Abgrund, dicht vor dem Sturz in die Drittklassigkeit steht, hatte Nürnberg mit 2:1 besiegt. Und dabei wahrlich sämtliche Höhen und Tiefen durchlebt, die der Fußball in all seiner Diabolität zuweilen zu bieten hat. Nach exakt 1860 Monaten Vereinsgeschichte erlebte 1860 vor 68 500 Zuschauern eine irre Geburtstagsparty, wie es wohl nur ein einziger Verein vermag. Der ganz normale Sechzig-Wahnsinn eben.
In den 1860 Monaten, sprich 155 Jahren Vereinsgeschichte, haben die Löwen viel erlebt: Sie haben gelacht, wie in den glorreichen Tagen der beiden Pokalsiege sowie der Meisterschaft 1966, als Peter Grosser die Schale in die Höhe stemmte. Freudentänze beim Durchmarsch aus der Bayernliga in die Bundesliga 1994 unter Werner Lorant vollführt. Und sie haben geweint. Wie nach dem verlorenen Europapokal-Finale 1965 gegen West Ham in Wembley. Oder beim Abstieg 1970, beim Lizenzentzug 1982 und dem bitteren Gang in die Bayernliga. Die quälend lange Zweitliga-Leidenszeit dauert bei verpassten Aufstiegshoffnungen, großem Trainer-Verschleiß und ewigem Chaos in der Führungsetage schon elf Jahre an. Das alles passt so gut zum Spiel gegen den Club. „So kaputt wie nach diesem Spiel war ich noch nie“, gab Markus Rejek zu. Der Geschäftsführer konnte nach dem Zuschauer-Rekord der Saison Mehreinnahmen von rund 400 000 Euro vermelden. Fröhling ergänzte: „Klar, dass das nicht spurlos an uns vorübergeht.“
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Spiel und Emotionen im Zeitraffer: Die Fans hofften, dass die Löwen die Abstiegsangst mit dem vierten Heimsieg vertreiben würden. Im ersten Durchgang wurden sie bitter enttäuscht. Von den fahrigen Löwen kam zu wenig, Nürnberg ging mit dem Pausenpfiff in Führung. Trauer. Wut. Verzweiflung. Wäre es dabei geblieben, hätte der Abstieg schon am 33. Spieltag bittere Realität werden können – 1860 am Boden.
Dann die Wende. „Wir haben uns nochmal zusammengerissen. Wir haben am Ende das Spiel gedreht und verdient gewonnen“, resümierte Siegtorschütze Daniel Adlung. Er selbst war es, der den Spielern, dem Klub und den Fans die Hoffnung zurückgab. Erst mit seinem Assist zum 1:1, später mit dem verwandelten Elfmeter. Die Arena tobte, die Spieler jubelten unbändig – die Löwen obenauf.
Nächster Rückschlag: Enttäuschung und Frust, als der Club das 2:2 erzielte, die ganze Arbeit wäre (so gut wie) umsonst gewesen. Doch dann: Riesen-Jubel! Weil der Treffer nicht zählte. Kapitän Christopher Schindler: „So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Es folgte Zittern bis zum Schluss, schließlich Erlösung, Freude, Erleichterung: Sieg! 1860 springt auf Rang 15 und hat den Klassenerhalt wieder selbst in der Hand.
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Einziges Problem: Das Happy End fehlt. Noch! Am letzten Spieltag muss 1860 in Karlsruhe ran. Der KSC ist Dritter, will schaffen, was die Löwen seit Jahren versuchen – aufzusteigen. Im Tabellenkeller kämpfen sieben Teams ums Überleben. Mit einem Sieg wäre 1860 durch (36 Punkte). Patzen Frankfurt (36, aber schlechteres Torverhältnis), das seinen Trainer Benno Möhlmann gestern entlassen und vor dem letzten Spieltag durch Tomas Oral ersetzt hat, und Aue (35), würde den Löwen sogar eine Niederlage reichen. Fröhling: „Die Situation ist nicht besser geworden. Erst waren wir einen Punkt vorne und 15., dann waren wir auf einmal abgestiegen, jetzt haben wir mit Glück und unheimlich viel Leidenschaft zwei Siege geholt. Mich überrascht in der Liga nichts mehr. Es wird sicher nicht langweilig bei uns.“ Was bei der emotional wie tabellarisch unglaublichen Irrfahrt für die Löwen spricht? Sie sind nach dem Nürnberg-Spiel, der Frust-Saison und ja, vielleicht auch der Klub-Historie, leidenserprobt. Und überraschen kann vermutlich nicht nur Fröhling nichts mehr. Matthias Eicher