Tschernobyl, Tränen, Titel
Die Doku „Klitschko” erzählt die Geschichte der Box-Brüder. Zum ersten Mal überhaupt äußern sich die Eltern vor der Kamera.
Berlin - Nadeschda Uljanowna Klitschko, das Haar blondiert, erzählt von ihren „Ängsten um meine Kinder”. Immer wenn Vitali oder Wladimir boxten, sei sie spazieren gegangen und habe auf den Anruf per Mobiltelefon gewartet. Einmal habe Vitali geweint, und sie mit ihm. Das war auf die Nachricht von der bitteren K.o.-Niederlage Wladimirs in Las Vegas gegen Lamon Brewster.
Wladimir Rodionowitsch Klitschko, mit weißem Haarkranz, erzählt von den Aufräumarbeiten nach dem Supergau im Kernkraftwerk Tschernobyl an der Reaktor-Ruine. „Mein Vater erlitt durch die radioaktiven Strahlen Krebs und nur Dank der deutschen Mediziner hat er überlebt”, sagt Vitali Klitschko, der erstmals überhaupt seine Eltern habe überreden können, vor der Kamera zu erscheinen.
Die Erzählungen der Eltern über ihre berühmten Söhne, die Schwergewichtsweltmeister Vitali (39) und Wladimir (35), und viele bisher unbekannte Ereignisse aus deren Leben hat der Regisseur Sebastian Dehnhardt in zweijähriger Dreharbeit für eine 110 Minuten lange Kino-Dokumentation „Klitschko” zusammengetragen. Alte Videos aus der Sowjetzeit vermitteln einen Einblick in die Jugend und die sportlichen Anfänge der beiden intelligenten Hünen.
Am Donnerstag starteten die Boxbrüder die Promotion des Films mit Ausschnitten auf einer Pressekonferenz in der Astor Filmlounge in Berlin. Der Film kommt am 16. Juni in die Kinos, hat aber bereits am 24. April in New York Weltpremiere beim Tribeca-Filmfestival von Robert De Niro. Die O-Töne bleiben und werden mit übersetzten Untertiteln verständlich gemacht. Die Klitschkos erzählen in fließendem Deutsch, im Film und auf der Medienkonferenz.
Der Film erhält durch das Unglück in Fukushima eine bedrückende Aktualität, wenn die Klitschkos im Film und vor den Medien von ihren Erinnerungen als Kinder – Vitali war 1986 bei der Reaktor-Katastrophe 14 Jahre, Wladimir zehn Jahre alt – von Tschernobyl erzählen. „Als Kinder haben wir überhaupt nicht begriffen, was radioaktive Strahlen bedeuten.” Wladimir hat sogar in verseuchten Pfützen gespielt. „Wenn man jetzt diese Bilder aus Japan sieht, versteht man, wie grausam, wie gefährlich so ein Unglück in einem Atomkraftwerk ist. Was in Japan passierte, ist ein Tiefschlag für die ganze Welt. Es tut weh, diese Bilder zu sehen”, sagt Vitali. Tschernobyl, nur 100 Kilometer von Kiew entfernt, habe damals auch ihre Familie betroffen. Der Vater war wochenlang weg. Geheim. Erst nach seiner Rückkehr habe der hohe Sowjetoffizier von seinem militärischen Auftrag innerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone berichtet.
Neu, auch für die Begleiter ihrer Boxkämpfe, ist das Verbot Wladimirs an Vitali, in sein Trainingscamp zu kommen. Auf dem Flug von Las Vegas nach Los Angeles nach dem K.o. gegen Brewster hatte Vitali sozusagen die Karriere Wladimirs beendet: „Das war’s, Bruder.” Wladimir aber entschied, nach einem heftigen Streit („Wir haben uns erstmals angebrüllt”) mit einem neuen Team und ohne die Bevormundung des großen Bruders einen neuen Anfang zu machen. In seiner Ecke aber brauchte der jüngere weiterhin den psychologischen Rückhalt des älteren Bruders. Zu den packendsten Szenen des nie langweiligen Films zählen die parallel laufenden, emotionalen Bilder beim entscheidenden Kampf seiner Karriere gegen den unbesiegten Samual Peter: Wladimir boxt unter ständiger K.o.-Gefahr, Vitali schreit unter höchster Anspannung Ratschläge in den Ring. Wladimir gewinnt nach zwölf Runden und drei Niederschlägen nach Punkten. Karriere gerettet.
Höhepunkt der Boxkämpfe aber ist die dramatische Schlacht zwischen Vitali Klitschko und Lennox Lewis. Das strömende Blut über Vitalis Gesicht, die tiefe Wunde über dem linken Auge, die schließlich den Arzt veranlasste, den Kampf abzubrechen, zeigt Dehnhardt mit noch nie gesehener, schonungsloser, abstoßender Realität. Kein Ketchup, echtes Blut – wie alles in der Dokumentation „Klitschko” echt ist.
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