Training bis es nicht mehr geht

Jeder zehnte deutsche Essgestörte ist ein Mann. Oft spielt Sport eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Krankheit.
Margherita Bettoni |
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Exzessiver Sport spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Essstörungen.
dpa Exzessiver Sport spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Essstörungen.

Jeder zehnte deutsche Essgestörte ist ein Mann. Oft spielt Sport eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Krankheit.

Martin L. will sein aktuelles Gewicht nicht verraten: „Es ist einfach zu wenig“, sagt der 25-Jährige. Als er noch keine Essstörung hatte, wog er bei einer Größe von 1,66 85 Kilo. Mittlerweile hat er sich halbiert.

Essstörungen werden oft mit sehr dünnen Mädchen oder Models verbunden „Doch jeder zehnte Betroffene ist männlich“, sagt Carolin Martinovic vom Therapienetz Essstörung in München, der größten Beratungsstelle in Deutschland. Während Frauen oft einfach aufhören zu essen, tauchen Essstörungen bei Männern meist in Kombination mit Sport auf.

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Anstatt sich zu erbrechen, trainieren Männer häufig exzessiv, um jede Kalorie abzubauen“, sagt Martinovic, „keine typische Bulimie, sondern Sportbulimie.“

Ein weiteres Phänomen, das sowohl bei Männern als auch bei Frauen auftritt, ist die Sportsucht. Die Betroffene müssen auf zwanghafte Art Sport treiben und zeigen psychische Entzugssymptome wie eine depressive Stimmung oder Aggressivität, wenn sie auf das Training verzichten müssen. Der Alltag von Sportsüchtigen dreht sich nur um das Training, darunter leiden auch persönliche oder berufliche Beziehungen. Auch für Martin hat der Sport bei seiner Magersucht eine entscheidende Rolle gespielt. Als 2009 die Beziehung mit seiner Freundin zerbricht, scheint ihm sein Körper zum ersten Mal ein Problem: „Ich wollte einfach attraktiver werden und habe angefangen, viel mehr als zuvor zu trainieren.“

Martin intensiviert sein Fußballtraining, er fängt an, joggen zu gehen. In kurzer Zeit steigert er sein Training auf sieben Tagen die Woche. Um schneller abzunehmen, isst er nur Salat. „Das Abnehmen ging so schnell, das fand ich natürlich toll“, sagt er rückblickend. „Doch, als es nötig gewesen wäre, habe ich den Ausstieg nicht mehr geschafft.“

Martin ist Opfer des heutigen Schönheitsideals geworden

Martin wird bald so schwach, dass er nicht mehr trainieren kann. „Da habe ich mich noch mehr zurückgezogen, wurde depressiv und habe viele meine Freunde verloren“, erzählt er. Er glaubt, Opfer unseres heutigen Schönheitsideal geworden zu sein: „Die Medien, die Gesellschaft, propagieren körperliche Perfektion“.

Junge Männer brauchen in der Regel länger, ehe sie das exzessive Sporttreiben als Krankheit anerkennen: „In unserer Gesellschaft gehört es dazu, dass Männer ihre Körper trainieren“ sagt Martinovic. „Außerdem sind Essstörungen für viele nur eine Frauenkrankheit.“ Sogar viele Ärzte kämen bei einem abgemagerten Jungen nicht auf die Idee, dass er unter Magersucht leiden könnte.

Martin war bereits fünf Mal in einer Klinik. „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und es ist nicht einfach, Essgewohnheiten zu verändern“, sagt er. Doch in alldiesen Jahren, hat er sein Alltagsleben nie aufgegeben. Nachdem er sein Webdesign-Studium aufgeben musste, hat er ein freiwilliges soziales Jahr gemacht. Neulich hat er eine Ausbildung als Kindergartenpfleger angefangen, die er wegen seines letzten Klinkaufenthaltes unterbrechen musste.

Dass Männer nicht zerbrechlich sein dürfen, ist ein Irrglaube

Martinovic geht davon aus, dass Essstörungen heilbar sind. „Man sagt pauschal, dass 90 Prozent der Betroffenen die Krankheit über-leben.“ 30 Prozent davon werden vollständig geheilt. Bei 30 Prozent taucht die Krankheit in schwierigen Lebensphasen wieder auf und die letzten 30 Prozent leben mit ihr weiter. Martin glaubt nicht, dass es möglich ist, wieder ein normales Verhältnis zum Essen zu entwickeln. Aber er hofft, einfach mit der Magersucht leben zu können. „Ich will lernen, damit umzugehen und einfach stabil werden.“ Und er hofft, dass in der Gesellschaft ein Umdenken stattfindet: „Man soll aufhören zu glauben, dass Männer nicht zerbrechlich sein dürfen. Das ist einfach Quatsch.“

Männer erkranken meistens später an Essstörungen. Das ist damit zu erklären, dass sie in der Pubertät Muskeln bekommen und sich somit nach dem Schönheitsideal entwickeln. Die Krankheit taucht bei Männer oft in Verbindung mit exzessiven Training auf. Die Magersucht ist oft ein Versuch, mit den Überförderungen der heutigen Gesellschaft klar zu kommen. Wichtig ist, dass die Betroffene frühzeitig Unterstützung suchen. Hilfe bieten in München beispielsweise folgende Einrichtungen an:

Therapienetz Essstörung, Sonnenstraße 2 (Stachus), Telefon: 089/720136780, beratung@tness.de, www.therapienetz-essstoerungen.de. (Das Therapienetz Essstörung bietet jeden Montag um 18 Uhr eine offene Infostunden, an die man ohne Voranmeldung wenden kann.)

Caritas Fachambulanz für Essstörungen, Landwehrstraße 26/IV (Sendlinger Tor), 089/23114970, faessstoerun-gen@caritasmuenchen.de, www.caritas-essstoerungen-muenchen.de.

Beratungsstelle für Essstörungen – Cinderella e.V., Westendstraße 35 (Häckerbrücke), 089/5021212, cinderellaberatg@aol.com, www.cinderella-rat-bei.essstoerungen.de.

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