Tischtennis-Star Timo Boll über die verpasste WM: "Mir blutet das Herz"

AZ-Interview mit Timo Boll: Der 41-jährige deutsche Tischtennis-Star lässt für den Olympia-Traum die Weltmeisterschaft aus.
AZ: Herr Boll, Sie haben sich am Donnerstag ein Visum für China besorgt. Dürfen sich die Fans doch noch auf Ihren Einsatz bei der WM in Chengdu freuen?
TIMO BOLL: Auf den WM-Einsatz leider nicht. Mir blutet selbst das Herz. Ich wurde vor eine schwierige Entscheidung gestellt. In China findet erst die WM statt, dann zwei weitere Turniere. Wenn man alle spielt, ist man weit über einen Monat weg von daheim und hätte aufgrund der Quarantäne-Bestimmungen auch keine Chance, vorzeitig abzubrechen. Das wollte ich mit Blick auf meine Familie nicht. Dazu kommt, dass die Olympia-Qualifikation nun nach den Weltranglistenpunkten gefällt wird - und gleichzeitig hat der Weltverband entschieden, bei der WM keine Punkte zu vergeben. Hätte ich die beiden weiteren Turniere nicht gespielt, wäre das Olympia-Rennen für mich praktisch schon gelaufen gewesen. Einen Tod musste ich da sterben.
Deutschland bei der WM: "Glaube, dass das Halbfinale möglich ist"
Sie wollen ja zu den Olympischen Spielen 2024 nach Paris. Ist Jörgen Persson, der mit 41 Jahren ins Olympia-Halbfinale einzog, Ihr Vorbild?(lacht) Den hatte ich eigentlich 2005 schon in Rente geschickt. Ich gewann, er kam danach zu mir und sagte: "Das war mein letztes internationales Spiel." Und dann standen wir 2012 doch wieder gegenüber und er hat mich auch noch geschlagen. Dass er im hohen Alter Top-Leistungen gezeigt hat, ist sicher ein Vorbild für mich. Wobei die Konkurrenz bei ihm in Schweden eine andere war als bei uns in Deutschland.
Da wächst ja nun etwas nach. Trotz des Ausfalls einiger Top-Spieler wie Ihnen visiert Bundestrainer Jörg Roßkopf mit einem jungen Team eine Medaille an. Was trauen Sie den Deutschen zu?
Ich glaube schon, dass – wenn jeder am Leistungslimit spielt – das Halbfinale möglich ist. Dang Qiu hat sich super gemacht und spielt konstant gut. Benedikt Duda hat gezeigt, dass er fast jeden auf der Welt schlagen kann. Auch ein Dritter wird für ein starkes Team sorgen. Die Deutschen muss man erst mal schlagen. (lacht)
Zweite Heimat China: "Habe viele Freunde und Fans dort"
Die WM findet in China statt. Sie waren dort über 60 Mal. Ist die Volksrepublik so eine Art zweite Heimat für Sie geworden?
Auf jeden Fall. Ich habe viele Freunde und Fans dort. Ich versuche, die Sprache wieder zu erlernen. Ich war nun schon zweieinhalb Jahre nicht mehr dort und freue mich umso mehr. Tischtennis ist die erste Sportart, die dort wieder ein Turnier austrägt. Das zeigt den Stellenwert, den unsere Sportart dort hat.
Sie sind dort ein Superstar. Einmal wurden Sie als "Sexiest Man alive" hinter David Beckham eingestuft.
Das ist schon lange her, aber immer wieder eine Anekdote zum Schmunzeln. Mittlerweile hat man auch in Deutschland meine Leistungen anerkannt. China ist ein großer Markt für mich. Wenn ich mal Lust habe, der große Star zu sein, kann ich da hinfliegen, und in Deutschland genieße ich meine Ruhe. Das ist ein idealer Mix für mich als zurückhaltender Mensch. (lacht)
Ihr Aufenthalt wird diesmal anders sein, wegen Corona.
Wir fliegen extra nach Chengdu, wo auch die WM stattfindet. Da können wir eine etwas gediegenere Quarantäne durchziehen. Drei, vier Tage rigide, danach können wir für einige Tage zumindest täglich trainieren. Dann geht es weiter zum Turnier nach Macau.
"Die Tradition geht im Moment ein bisschen flöten"
Ein WTT-Turnier. Der Deutsche Tischtennis-Bund hatte letztens gesagt, dass er derzeit kein Interesse an einer WM habe, aber ein WTT-Turnier ausrichten wolle. Verschiebt sich da gerade die Wertigkeit?
Die WTT versucht schon, ihren Plan umzusetzen: dass sie den Fokus auf die Grand Smashes verschieben will. Vier große Turniere, ähnlich wie im Tennis. Für einen Grand Smash kriegen wir in Deutschland aber das Geld nicht zusammen. (lacht) Aber für ein Turnier in der Kategorie darunter. Für einen wie mich, der sein Leben für die WM gekämpft hat, ist das nun schon eine Umstellung. Die Tradition geht im Moment ein bisschen flöten. Es wird alles kommerzialisiert. Man muss für das Tischtennis hoffen, dass alles gut angenommen wird. Ein Grand Smash ist aktuell noch nicht größer als eine WM.
Apropos Tennis: Roger Federer, eines Ihrer Vorbilder, hat seinen Abschied gegeben. Dirk Nowitzki, ein anderes Vorbild Ihrer Person, hatte seine Abschiedszeremonie. Haben Sie da zugeschaut?
Bei Dirk war ich vor Ort. Da hatten wir eine nette Veranstaltung. Ein Essen mit Freunden und Weggefährten, dann das Jersey-Retirement und eine After-Show-Party. Es freut mich für Dirk, dass sich der Basketball-Bund so ins Zeug gelegt hat. Bei Federer: Ich wollte unbedingt schauen. Dann wurde es immer später und später - dann bin ich eingenickt. (lacht) Ich habe es mir am nächsten Tag aber noch angeschaut. Das war sehr emotional. Wenn man seinen eigenen Abschied vor Augen hat und sich damit beschäftigt, dann kann man nachvollziehen, wie weh ihm das getan hat.
"Ich hänge brutal an meiner Karriere"
Wollen Sie auch mal so verabschiedet werden?
Hmm, keine Ahnung. Ich will mir da ja noch ein wenig Zeit lassen. Ich hänge brutal an meiner Karriere und der Sportart, das wird definitiv wehtun. Andererseits ist so ein Abschied eine große Würdigung. Eins ist sicher: Ich werde mal meinen Abschied nicht selbst planen. Das sollen andere machen.
Ihr Vertrag bei Borussia Düsseldorf läuft bis 2025.
Und im Moment habe ich das Gefühl, dass ich gut weitergehen kann. Die Rückenprobleme, die ich in den letzten Jahren hatte, sind weg.