Tennis: Angelique Kerber sucht Ruhe nach frühem US-Open-Aus
New York - Was in einem Jahr alles passieren kann...
353 Tage nach ihrem Triumph in Flushing Meadows musste Angelique Kerber einen bitteren Rückschlag hinnehmen, mal wieder. 3:6, 1:6 gegen Japanerin Naomi Osaka, die Nummer 45 der Weltrangliste.
Der erste Sieg der 19-Jährigen gegen eine Top-Ten-Spielerin. Nur 65 Minuten brauchte sie, um Kerber zu entzaubern. Aus in Runde eins, und das als Titelverteidigerin – bei den US Open gab’s das erst ein Mal: 2005, bei Swetlana Kuznetsowa.
Erst fünf Mal in der Open-Ära seit 1968 passierte es, dass die Siegerin des Vorjahres bei einem Major-Event zu Beginn verliert.
"Das war heute nicht mein Tag"
Die Konsequenz in Zahlen: Fast 2.000 Ranglistenpunkte wird Kerber verlieren und auch aus den Top Ten rausfliegen, erstmals seit Oktober 2015. Dabei war sie bis Mitte Juli noch die Nummer eins. Was bleibt vom Debakel in ihrem geliebten New York, ist die Frage nach dem Warum.
Bereits bei den French Open hatte sie die Auftakthürde gerissen, bei den Australian Open und in Wimbledon war jeweils im Achtelfinale Schluss.
Kerber selbst schien zumindest den Ansatz einer Erklärung parat zu haben: "Ich hatte diese Saison viel weniger Spiele als 2016. Aber ich bin eine, die die Matches braucht", sagte die 29-Jährige, die sich zuletzt mit einer Ellbogenverletzung plagte.
Und: "Das war heute nicht mein Tag. Ich habe immer geglaubt, dass ich das Match noch drehen kann, denn ich kam eigentlich mit einem guten Gefühl hierher."
Evert: "Angie wirkt blockiert"
Am Ende der Saison steckt Kerber nun in einem Teufelskreis. Keine Form bedeutet: geringere Chancen auf mehr Partien. Wenige Spiele heißt: weiterhin kein Selbstvertrauen. Eine Statistik ist charakteristisch für die letzten acht Monate: Während Kerber in ihrem Märchenjahr 2016 24 Erfolge gegen Top-20-Spielerinnen feierte, verlor sie seit Januar alle neun Duelle gegen Konkurrentinnen dieser Güteklasse.
Vor den Turnieren in Asien hat sie zwar fast genauso viele Niederlagen wie im gesamten 2016 auf dem Konto (18:19), allerdings noch nicht mal die Hälfte der Siege eingefahren (25:64).
"Angie wirkt blockiert. Ihr tolles Jahr 2016 scheint körperliche und psychische Spuren hinterlassen zu haben. Sie kämpft immer noch – aber eben auch gegen sich selbst", analysierte Kerber-Fan Chris Evert. Die US-Ikone empfahl der Kielerin, "in der Off-Season alles auf Null zu stellen". Denn "die spielerischen Qualitäten", die habe Kerber ja zweifelsohne.
"Ich gebe nicht auf"
Bundestrainerin Barbara Rittner meinte nur: "Ich hatte gedacht, dass sie sich gerade hier in den ersten Runden das Selbstvertrauen zurückholt. Sie braucht gewonnene Matches, wo, ist völlig egal. Nur über das Selbstvertrauen kann der Knoten ganz schnell wieder platzen."
Linkshänderin Kerber gab derweil indirekt zu, dass ihre Probleme mentaler Natur sind: "Ich habe in den letzten Monaten sehr hart trainiert. Aber Matches sind dann einfach etwas anderes."
Auf die Frage, ob sie sich etwas vorzuwerfen habe, antwortete sie: "Ich hätte vielleicht nur ein, zwei Wochen länger Urlaub machen sollen, um mich neu zu resetten."
Dennoch bemühte sie sich, mit Blick in die Zukunft Zuversicht auszustrahlen: "Für mich ist wichtig, dass ich weiß, was ich kann. Man darf den Kopf nicht in den Sand stecken. Ich weiß, dass ich aus dem Tief rauskommen werde, und ich gebe nicht auf."
Für die einen klingen das optimistisch, für die anderen wie das Pfeifen im Walde. Kerbers Krise erinnert an die der deutschen Fußball-Nationalmannschaft nach dem 0:3 gegen Portugal bei der EM 2000.
Tiefer in ging es nicht mehr – und nach diesem Tag begann ein Umdenken im Verband, der letztlich im WM-Titel 2014 gipfelte. So viel Zeit hat Kerber mit ihren 29 Jahren nicht mehr.
Aber dass sich nach dem Heimaturlaub in Polen etwas ändern muss, wird ihr klar sein. Schon vor den French Open hatte sie im Gespräch mit der AZ nicht ausgeschlossen, sich auch mal die Hilfe eines Mentaltrainers zu holen. Sieht so aus, als sei nun der Zeitpunkt dazu gekommen.