Stefan Kretzschmar: „Sigurdsson ist ein bisschen wie Pep“
München - Der 42-Jährige Stefan Kretzschmar machte als Linksaußen 218 Länderspiele für die deutsche Handball-Nationalmannschaft. Er gewann Silber bei Olympia, Meisterschaften und die Champions League. Die Abendzeitung hat mit ihm vor dem EM-Auftakt der deutschen Handball-Nationallmannschaft gesprochen.
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Zielsetzung für die EM? Platz fünf als Minimalziel!
AZ: Herr Kretzschmar, die deutsche Handball-Nationalmannschaft startet am Samstag in die EM. Welche Erwartungen haben Sie?
STEFAN KRETZSCHMAR: Die Entwicklung ist durchaus positiv. Bei der WM in Katar sind wir Siebter geworden. Als Minimalziel würde ich jetzt das Spiel um Platz fünf sehen. Im großen Überraschungsfall kann man sicher auch von einer Medaille träumen. Aber das ist für diese junge Mannschaft zu viel Druck und kommt vielleicht noch zu früh.
Wie sehr ist das Team durch die zahlreichen Verletzungen – unter anderem von Kapitän Gensheimer, Groetzki, Wiencek, Drux – geschwächt?
Na klar würden wir mit diesen Stammspielern auf einem anderen Level spielen. Die Mannschaft kann aber auch so an guten Tagen jeden schlagen. Ich bin sehr optimistisch, dass wir ein gutes Turnier spielen.
Mit Rune Dahmke steht nur ein Linksaußen zur Verfügung. Bei Ihnen hat noch niemand nachgefragt, ob Sie vielleicht einspringen könnten?
(lacht) Nein. Ich bin leider nicht mehr in der Form, um so ein Turnier zu spielen. Früher war es nicht ungewöhnlich, dass ein Außenspieler ein ganzes Turnier durchgespielt hat. Wir können dem Jungen voll und ganz vertrauen, er hat schon oft nachgewiesen, dass er ein sehr guter Linksaußen ist. Es ist sein erstes großes Turnier und das darf er wahrscheinlich gleich durchspielen. Eine tolle Aufgabe.
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Handball zur Primetime - große öffentliche Wahrnehmung
Mit Spanien trifft man gleich auf einen der Topfavoriten. Ist das gut oder schlecht?
Man wünscht sich eigentlich immer einen einfachen Auftaktgegner, um mit einem Erfolgserlebnis zu starten. Aber bei einer EM gibt es keine einfachen Gegner, sie ist sportlich höher einzuschätzen als eine WM. Mit Spanien, Schweden und Slowenien hat man gleich drei Hochkaräter in der Vorrunde. Spanien hat sich selbst auferlegt, den Titel gewinnen zu wollen. Wenn das deutsche Team dieses Spiel verlieren sollte, ist man natürlich gleich unter Druck, dann die anderen beiden Spiele gewinnen zu müssen. Ich glaube aber, dass wir stark genug sind, auch Spanien zu schlagen.
Ein mögliches Scheitern in der Vorrunde wäre aber schon ein Rückschlag für die großen zukünftigen Ambitionen des DHB, oder?
Damit befasse ich mich gar nicht, weil ich glaube, dass wir die Vorrunde überstehen werden. Diese Mannschaft ist eine sehr gute und hat uns in der Vorbereitung viel Freude bereitet. Es ist eine Perspektivmannschaft, die ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat. Aber: Es ist auch nicht so, dass man sagen kann: ‘Die EM ist für uns ein Aufbauturnier und wir wollen dann bei Olympia 2020 etwas gewinnen.’ So funktioniert der Handball in Deutschland nicht. Wir wissen, dass wir bei jedem Turnier abliefern müssen.
Auch für die öffentliche Wahrnehmung, oder?
ARD und ZDF übertragen live und teilweise zur Primetime. Das Spiel gegen Schweden wird zum Beispiel am Montag um 20.15 Uhr gezeigt. Da kann man davon ausgehen, dass da eine große öffentliche Wahrnehmung stattfindet. Deswegen müssen wir dieses Turnier voll und ganz ernst nehmen. Das ist kein Versuchsballon für eine kommende Generation.
Früher gab es Kretzschmar, Schwarzer, Hens, Roggisch und Co. – wer sind die Typen der aktuellen Mannschaft?
Kapitän Steffen Weinhold ist zum Beispiel ein ganz herausragender Spieler. Carsten Lichlein ist ein Torhüter mit großer Persönlichkeit. Martin Strobel ein großartiger Stratege und charakterlich einwandfrei. Es gibt Spieler, die das Heft an sich reißen werden. Und Spieler, die wachsen können. So, wie Christian Dissinger auch in der Vorbereitung gespielt hat, könnte er der Shootingstar der EM werden. Auch Steffen Fäth hat Potenzial. Das sind noch nicht die ganz großen Gesichter, aber die waren wir in unserer Generation am Beginn unserer Karriere auch nicht.
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"Sigurdsson ist ein bisschen wie Pep"
Bundestrainer Dagur Sigurdsson geht mit einem der jüngsten Teams aller Zeiten in das Turnier, wie sehen Sie da seine Rolle?
Er hatte immer wieder den Blick für Talente und war mutig genug, sie auch einzusetzen. Und sie haben ihn auch nicht enttäuscht. Daraus resultiert dieser große Fundus an Nachwuchsspielern. Er lässt einen schnellen, attraktiven Handball spielen. Und er ist ein relativ junger Trainer, der weiß, wie die Herzen der Spieler schlagen. Außerdem ist er ein tiefsinniger Mensch, der weitaus mehr Interessen als nur Handball hat. Er ist für diese Mannschaft und den deutschen Handball momentan genau richtig.
Trauen Sie Sigurdsson zu, den deutschen Handball mal ähnlich prägen zu können wie einst Heiner Brand?
Es wird nie wieder einen wie Heiner Brand geben. Aber man vergleicht uns Handballer ja immer gerne mit dem großen Fußball. Sigurdsson ist ein bisschen wie Pep Guardiola. Ein sehr innovativer, handball-verrückter Trainer, der viel Respekt genießt und sich viele neue Sachen einfallen lässt. Diesen Weg, den Guardiola gegangen ist, mit der Anerkennung, die er im Fußball erfährt, das traue ich Dagur Sigurdsson auch zu. Er bringt auch etwas Multikulturelles in den deutschen Handball. Durch ihn hat man sich von diesen alten Generationen, die im deutschen Handball immer wie so eine dunkle Wolke über den aufsteigenden Sternen stehen, endgültig gelöst. Man hat etwas Neues aufgebrochen, ein neues System versucht. Deshalb ist Sigurdsson ein Glücksfall für den deutschen Handball.
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