Sommermärchen, die Zweite?

Stephan Grünewald hat die Psyche der Bundesbürger untersucht. Im AZ-Interview erklärt er, wie die WM 2006 die Deutschen veränderte – und ob sich ein ähnliches Phänomen bei der EM wiederholen kann.
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„Die Leute haben wieder Spaß daran, ein Wir-Gefühl zu erleben.“
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Stephan Grünewald
az 2 Stephan Grünewald

Stephan Grünewald hat die Psyche der Bundesbürger untersucht. Im AZ-Interview erklärt er, wie die WM 2006 die Deutschen veränderte – und ob sich ein ähnliches Phänomen bei der EM wiederholen kann.

Die Fußball-WM 2006 verzauberte die Nation: In den Public-Viewing-Areas fielen sich Menschen um den Hals, die sich vorher noch nie gesehen hatten. Eine Bundeskanzlerin herzte den Teamchef der Nationalmannschaft. Der Wirtschafts-Aufschwung begann.

AZ: Herr Grünewald, was hat die WM 2006 bei den Deutschen bewirkt?

STEPHAN GRÜNEWALD: Das war eine nationale Lockerungsübung. Wir können mal wieder aus uns herausgehen, ohne dass die Welt die Nase rümpft. Niemand befürchtete, dass die Deutschen wieder ihr fieses Gesicht zeigen – das wurde als wahnsinnige Befreiung erlebt.

Welche Bereiche wurden von der Freude erfasst?

Es war eine private Wende. Die Jahre nach dem 11. September 2001 waren geprägt von Angst und einem Rückzug auf den engsten Freundeskreis. Diese Verschanzungsmentalität ist durch die WM weg, die Leute haben wieder Spaß daran, ein Wir-Gefühl zu erleben. Wir erleben seitdem eine Eventomanie. Das kann die Handball-WM sein, die Frauen-Fußball-WM – oder der Katholikentag.

Gab es den wirtschaftlichen Aufschwung durch die WM-Euphorie?

Die Wirtschaft ist psychologisch motiviert. Dieses Aus-Sich-Rausgehen hat auch Auswirkungen auf den Konsum gehabt. Es gab höhere Risikobereitschaft für Investitionen.

Welche Auswirkungen gibt es noch?

Wir haben in Untersuchungen festgestellt, dass auch die vielen Koch-Shows im Fernsehen eine Folge der WM sind. Die Leute versuchen, die Gastgeber-Tugenden auszubauen. Das ,perfekte Dinner’ ist eine Mini-WM im Gastgeben. Es gibt immer einen, der Heimspiel hat, die Gastgeber-Rolle wechselt, am Ende ist einer Sieger. Die Zuschauer gucken sich das an – und machen es zu Hause nach.

Aktuelle Umfragen belegen, dass die Deutschen Angst vor der Zukunft haben – und vor allem finanzielle Sorgen. Die Euphorie verflogen zu sein.

Diese neue Gerechtigkeitsdebatte ist vielmehr die Konsequenz des Gemeinschaftsgefühls der WM. Wir-Gefühl heißt: Wir verpflichten uns alle auf die gleichen Aufgaben und Entbehrungen. Gerade eine Gemeinschaft reagiert äußerst sensibel, wenn sie realisiert, dass es Gerechtigkeits-Lücken gibt. Deshalb nehmen es die Bürger besonders krumm, wenn das Gerechtigkeits-Dogma verletzt wird.

Haben Sie ein Beispiel?

Die Steuerhinterziehungs-Affäre von Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel: Die Post wird als fürsorgliche Instanz wahrgenommen. Sie schickt jeden Tag ihre Nikoläuse los, die Hausbesuche machen und den Sack vor der Haustür leeren. Wenn der Ober-Nikolaus Zumwinkel sich selbst den Sack vollmacht, dann stimmt irgendetwas nicht.

Welche Auswirkungen hatten Welt- und Europameisterschaften in der deutschen Geschichte?

Zeitenwenden artikulieren sich auch im Fußball. Das Wunder von Bern 1954 war ein zentraler Wendepunkt. Die Mannschaft hat gespürt, dass Deutschland im Umbruch ist, dass die neun Bußjahre nach dem Krieg vorbei sind und dass wir wieder zu einem positiven Ansehen kommen können. Auch hat der WM-Titel das Wirtschaftswunder dynamisiert.

Gibt es noch andere Zusammenhänge?

Den schönsten Fußball haben wir während der EM ’72 gespielt. Das waren die Nachwehen des 68er-Aufbruchs. Die Ikone war Günther Netzer als Rebell mit langen Haaren. Und: Wir sind nach der Wiedervereinigung Weltmeister geworden – auch da gab es eine Euphorie, dass wir als Nation zusammenwachsen.

Wie war das 2006?

Bei der letzten WM hatten wir mit Merkel und Jürgen Klinsmann zwei neue Führungsfiguren. Klinsmann, der alte Zöpfe abschnitt, Teamgeist beschwor. Damals waren wir an einem Punkt, wo Deutschland wirtschaftlich am Boden lag – die Weichen für den Aufschwung aber schon gestellt waren. In den glücklichen Momenten kann eine WM oder EM als Katalysator wirken – er verstärkt bestehende Entwicklungs-Tendenzen.

Gibt es auch einen Gleichklang in der Depression? Bei der WM 1994, 1998 und der EM 2004 haben wir uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

1994 war die Euphorie der Wiedervereinigung verpufft. Die Einheit hat uns mehr Sorgen und Schulden bereitet. 1998 war das Ende der Kohl-Ära – die Abdank-Stimmung war auch im Fußball zu spüren. 2004 war geprägt von der wirtschaftlichen Krise.

Und jetzt?

Jetzt sind wir in einer wohltemperierten Mittellage. Einerseits sind wir nicht mehr in der Wirtschaftskrise, aber man spürt auch noch keinen Zündfunken. Der Aufschwung schwächt sich ab. Mich würde nichts wundern – weder, wenn wir im Viertelfinale ausscheiden, noch, wenn wir Europameister werden.

Kann man das Wunder von 2006 wiederholen?

Ich beobachte eine Freude Vorerwartung. Man ahnt, dass man nicht mehr den Stimmungsgipfel erreichen kann wie bei der WM im eigenen Land – aber man hofft, dass man dieser Euphorie wieder sehr nahe kommen kann. Das hängt sehr stark davon ab, wie das Turnier für die deutsche Mannschaft verläuft.

Volker ter Haseborg

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