Ski-Legende Girardelli: "Du kämpfst nur ums Überleben"

Die legendäre Streif ist das härteste Ski-Rennen der Saison. Der Österreicher Marc Girardelli hat den Klassiker 1989 gewonnen. Hier erklärt er die Schlüsselstellen – und er sagt, wo Gefahren lauern
KITZBÜHEL/MÜNCHEN Marc Girardelli war im Januar 1989 erst 25 Jahre alt und hatte zu diesem Zeitpunkt schon zweimal den Gesamtweltcup gewonnen. Der Österreicher, der für Luxemburg antrat, hatte in seiner Karriere als Profi eigentlich schon alles erlebt. Eigentlich. Denn die Streif machte aus dem arrivierten Ski-Star einen ängstlichen Jungen. „Bei der Besichtigung der Abfahrt habe ich gesehen, wie fürchterlich die Strecke ist. Ich habe zu meinem Vater gesagt: Ich glaube ich schaffe das nicht”, sagt Girardelli, fünfmaliger Weltcup-Gesamtsieger.
„Ich hatte die Hosen gestrichen voll und sogar kurz überlegt, gar nicht erst zu fahren. Wegen der Weltcup-Punkte bin ich dann aber doch an den Start gegangen.” Mit erstaunlichem Erfolg: Der mittlerweile 49-Jährige gewann das Abfahrtsrennen in Kitzbühel – und später auch den Gesamtweltcup. Mit insgesamt sieben Siegen (einmal Abfahrt, dreimal Super-G, dreimal Slalom) ist er Rekordhalter am Hahnenkamm. In der AZ erklärt er das Rennen (Samstag, 11.30 Uhr, live im TV auf ARD und Eurosport).
Start: „Du schaust aus dem Häuserl und kannst nicht mehr zurück – obwohl du das in dieser Situation vielleicht möchtest. Hinter dir drängen sich schon die anderen Fahrer. Du weißt: Du musst dich jetzt in diese grauenhafte Hölle stürzen. Direkt nach dem Start stößt du dich zweimal ab – und der dritte Stoß geht schon ins Leere, weil du schon so eine Geschwindigkeit drauf hast.”
Mausefalle: „Eine Sache für sich. Du springst 40 bis 60 Meter – und noch schwieriger wird es, danach den Sprung mit den Oberschenkeln abzufangen. In der Hocke herrscht ein irrsinniger Druck. Früher gab es an der Stelle nach dem Sprung noch einen ganz normalen Latten- und keinen Fangzaun. Bis ein Amerikaner darüber geflogen ist und im Fels gelandet ist.”
Steilhang: „Eine sehr enge Kurve führt in den Steilhang. Es ist eisig, schattig, und unzählige Schläge malträtieren deine Beine. Diese Passage kannst du so oft besichtigen und planen wie du möchtest – die Linie im Rennen wird doch eine andere sein. Der Steilhang ist ein schattiges Loch, ein echtes Abenteuer. Und vor allem kostet hier der kleinste Fehler wertvolle Geschwindigkeit im folgenden Gleitstück – und damit Zeit.”
Gschöß: „Im Mittelteil ist das Material gefragt – die Serviceleute müssen hier ganze Arbeit geleistet haben. Mittlerweile wissen die Fahrer, dass sie hier den eisigen, ausgefahrenen Kanal erwischen müssen. Und du musst ein bisschen Glück mit dem Wetter haben, der Schnee darf nicht aufweichen. Ich bin einmal im oberen und unteren Teil des Rennens die beste Zeit gefahren, hatte im Ziel aber 2,5 Sekunden Rückstand – weil meine Ski nicht richtig gelaufen sind.”
Alte Schneise: „Hier wird es wieder unheimlich holprig. So holprig, dass du denkst, dir haut es gleich die Plomben aus den Zähnen. Mittlerweile hast du 100 bis 110 km/h drauf. Du musst richtig kämpfen, die Ski auf die Piste zu bringen.”
Seidlalmsprung: „Hier fliegst du an die 40 Meter. Und musst dich gleich nach der Landung drehen, um die folgende Kurve zu erwischen. Schaffst du das nicht, landest du im Fangnetz.”
Lärchenschuss: „Jetzt wäre eigentlich ein bisschen Erholung fällig, denn du beginnst müde zu werden, die Muskeln brennen. Die enge Rechtskurve oberhalb des Lärchenschuss musst du perfekt erwischen, sonst fehlt dir gleich danach das Tempo. Wenn es dann zu sehr staubt, weißt du, dass du eine halbe Sekunde verloren hast.”
Oberhausberg: „Das ist der Punkt im Rennen, an dem ich am liebsten vor Erschöpfung meine Ellbogen auf den Knien aufgestützt hätte, wie ein Rentner. Aber ich habe mich daran erinnert: Du wirst gefilmt – das kannst du nicht bringen!”
Hausbergkante: „Jetzt ist die Müdigkeit weg. Denn du kämpfst nur ums Überleben. Beim folgenden Sprung musst du auf jeden Fall vermeiden, in Rücklage zu geraten, sonst landest du im besten Fall im Fangzaun. Im Internet gibt es unzählige Videos von sehr respektablen Stürzen an dieser Stelle.”
Zielschuss: „Das ist nochmals eine Schlüsselstelle: Es rüttelt so stark, dass du die Tore vor der Einfahrt zum Zielhang nicht mehr richtig siehst. Deshalb musst du auf jeden Fall einen Meter Sicherheitsabstand zum Tor einplanen – sonst fädelst du ein. Und das sollte bei der Geschwindigkeit besser nicht passieren.”
Zielsprung: „Eigentlich bist du jetzt schon völlig am Ende. Und genau dann kommt noch einmal eine extreme Schwierigkeit: Du schießt mit 140 bis 145 km/h Richtung Ziel – und hebst ab. Wenn du die Kontrolle behältst, landest du auf deinen Skiern. Wenn nicht, können hier die schlimmsten Unfälle passieren. So wie bei Daniel Albrecht oder Hans Grugger, die im Koma lagen.”
Ziel: „Du musst voll konzentriert abschwingen. Der kleinste Verkanter und es schmeißt dich. Egal, ob du jetzt Erster oder Fünfzigster bist: Du denkst nur: Gottseidank hab’ ich’s geschafft.”