Simon Schempp im Interview: "Wir haben uns als Freunde bis aufs Messer bekriegt"

München - AZ-Interview mit Simon Schempp. Der 33-Jährige beendete vor einem Jahr seine Biathlon-Karriere. Am 14. Dezember erscheint seine Autobiografie "Zieleinlauf - Mein Leben für den Biathlon" (Riva-Verlag, 304 Seiten, 22 Euro).
AZ: Herr Schempp, es ist der erste Advent seit langem, den Sie nicht auf Weltcup-Reise für den Biathlon-Sport verbringen. Wie nutzen Sie die gewonnene Zeit?
SIMON SCHEMPP: Ich habe neue Aufgaben, die viel Zeit in Anspruch nehmen.
Sie studieren BWL und arbeiten beim Deutschen Skiverband. Wie kam es?
Ich wollte dem Sport erhalten bleiben. Weil ich viele Jahre als Leistungssportler aktiv war, wollte ich die andere Perspektive kennenlernen, mich weiterentwickeln. Ich wollte etwas mit Sport und dem Finanzbereich machen, das war die perfekte Gelegenheit.
"Die letzten beiden Jahre waren sportlich gesehen nicht meine schönsten"
Ein Stück Freiheit, das Sie sich nach zuletzt schweren Karrierejahren geschaffen haben?
Klar, die letzten beiden Jahre waren sportlich gesehen nicht meine schönsten. Ich merkte, ich komme nicht mehr dahin, was mich zufrieden und glücklich macht. Ich habe schnell eine neue Aufgabe gefunden. Wer neue Ziele setzt, kann wieder etwas angehen, einen erfüllten Alltag finden.
Sie wirken aufgeräumt.
Es kamen nie Gedanken auf, dass es eine falsche Entscheidung war. Ich war mit mir immer im Reinen.
Sie hatten seit 2017 körperliche Probleme. Über den Sommer 2020 berichten Sie in Ihrem Buch von einem "Gefühl der lähmenden Hilflosigkeit".
Es kamen nach der Saison 2019/20 Gedanken bei mir auf: "Soll ich mir es noch mal antun oder war es das?" Damals hatte ich noch die Motivation und den Glauben, wieder dahin zu kommen, was mich zufriedenstellt. In der Vorbereitung war aber zu sehen, dass dies nichts wird. Es war deprimierend. Der Glaube und mein Ziel gingen in Illusion über. Es war hart zu akzeptieren - aber am Ende bleibt einem nichts anderes übrig. (lacht)
Im Sport wird Druck und der Umgang damit nun auch öffentlich thematisiert. Etwa von der US-Turnerin Simone Biles bei Olympia in Tokio.
Ein Leistungssportler hat natürlich viele Drucksituationen, die man sich selbst auferlegt oder mit gestiegenem Niveau auferlegt erhält. Das hat Martin ja auch beschrieben.
"Nach der Saison war ich nicht körperlich müde, sondern mental ausgeknockt"
Biathlon-Ass Martin Fourcade, der 2020 im Alter von 31 Jahren seine Karriere beendete. Er sagte: "Mein Rezept zum Erfolg war, der zu sein, den die anderen jagen. Das hat mir Selbstbewusstsein gegeben. Wenn ich nicht der Favorit war, habe ich mich schwach gefühlt."
Er hatte das noch härter erlebt, weil für ihn nur die Plätze eins bis drei galten. In meinen besten Jahren, in denen ich körperlich in Topform war, war ich nach der Saison nicht körperlich müde, sondern mental ausgeknockt. Man hat vier Monate am Stück Wettkämpfe, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche ist man mit dem Kopf bei der Sache. Da fällt eine Last ab, wenn man dann Urlaub hat.
Sollte in diesem Bereich der Verband für stärkere Unterstützung sorgen?
Ich finde nicht, dass das Aufgabe des Verbandes ist. In diesem Bereich hängt viel mit Vertrauen zusammen. Es sollte jeder seinen eigenen Ansprechpartner suchen. Ich hatte meinen eigenen Mentaltrainer, den hatte ich schon viele Jahre. Der Bereich war für mich ein Mosaikstein zum Erfolg.
Sie haben Fourcade angesprochen. Er war Ihr großer Rivale, ist aber auch Ihr Freund.
Im Wettkampf hatten wir uns bis aufs Messer bekriegt. Danach aber hatten wir großen Respekt vor der Leistung des Freundes, wir haben uns gratuliert und wieder den Mensch Martin - oder umgekehrt - den Simon gesehen.
Auch bei den Olympia 2018, wo Sie im Fotofinish unterlagen. Blicken Sie da mit einem weinenden Auge auf das verlorene Gold oder sind Sie glücklich über Silber?
Ihr bin sehr stolz auf Silber. Es haben nur 14 Zentimeter gefehlt, aber ich lief die Schlussrunde gegen den weltbesten Biathleten dieser Zeit. Insofern war das ein riesen Erfolg. Ich bin auch froh, dass er das Vorwort für mein Buch geschrieben hat.

"Ich konnte definitiv auch meine Ellbogen ausfahren"
Haben Sie eigentlich mal mit ihm über seine Tricks geredet, die Sie in Ihrem Buch beschreiben? Etwa die kleinen Störmanöver am Schießstand...
(lacht) Martin ist sich jeder Situation bewusst gewesen. Er ist ein emotionaler, polarisierender Mensch - und sehr intelligent. Kein anderer ist auf solche Einfälle gekommen wie Martin. Er war gewieft. Er war unvorhersehbar im Wettkampf und tat alles, um den Gegner aus dem Rhythmus zu bringen. Er nutzte alle Mittel, die das Reglement hergegeben hat.
Was nichts für Sie war...
Ich konnte definitiv auch meine Ellbogen ausfahren und im Wettkampf sehr, sehr hart sein.
Sie gewannen unter anderem 2017 Gold im Massensprint bei der WM in Hochfilzen.
Das werde ich nie vergessen. Du läufst vor allen auf die Zielgerade, du warst heute der Beste der Welt und kannst es sogar genießen, weil du Abstand hast. Das Stadion war voll von Zuschauern, vielen deutschen Fans, strahlendes Wetter. Der perfekte Tag.
Ihre Freundin Franziska Preuß, die weiter zur Weltspitze gehört, trainiert im Sommer, so wie Sie es früher auch taten, abseits des A-Kaders am Wohnort Ruhpolding.
Es ist natürlich eine zusätzliche Drucksituation, wenn du nicht mit der Mannschaft trainierst, aber sie hat sich für den Schritt mit ihrer Entwicklung absolut belohnt.