Scharapowa & Co: Das Ende der Sirenen

LONDON - Die Tennisfans in Wimbledon - und die TV-Zuschauer - sind froh, dass Maria Scharapowa und Michelle Larcher de Brito ausgeschieden sind.
In der abendlichen Kultsendung „Today at Wimbledon“ konnte Jung-Reporter Tim Henman am Mittwoch der BBC-Gemeinde von seinen erstaunlichen Ausflügen ins gut geschützte Trainingsareal im Aarongi Park berichten. Mehrfach habe er dort nun die Übungseinheiten von Stars und Sternchen des Damentennis beobachten können, sagte der tragische Held so vieler Grand Slam-Exkursionen in London, „und Fakt ist: Sie stöhnen überhaupt nicht, wenn sie trainieren. Da ist es völlig ruhig“ Was Henman zu dem treffsicheren Schluss brachte: „Es ist nichts als eine üble Methode, die Gegnerin zu stören.“
Seit Maria Scharapowa und die 16-jährige Portugiesin Michelle Larcher de Brito am dritten Wettbewerbstag der Offenen Englischen Meisterschaften ausgeschieden sind, ist Wimbledon zwar ein deutlich leiserer Spiel-Platz geworden. Doch dass die Debatte um die Geräuschemissionen längst nicht mehr nur ein Fall für die Boulevardpresse mit ihren „Grunz-O-Metern“ ist, zeigte die Reaktion der Centre Court-Besucher in der „Schlacht der Schönen“, im Match von Scharapowa gegen die Argentinierin Gisela Dulko: Wie ein Hauch von Palastrevolution mutete die Schadenfreude der Fans an, die auf der Zielgeraden des hartumkämpften Drei-Satz-Matches jeden Fehler der Russin frenetisch beklatschten – eben, weil die meisten Schläge von einem ohrenbetäubenden Schrei-Konzert begleitet wurden, „das vermutlich einen ganzen Gläserschrank zum Platzen bringen würde“ (Tennis Week). BBC-Reporter Simon Reed kommentierte die machtvolle Anti-Scharapowa-Stimmung jedenfalls so: „Ist das jetzt die britische Sympathie für eine Außenseiterin? Oder haben die Leute einfach genug gehört von Scharapowa? Ich glaube, das Letzte trifft zu.“
"Sie hört sich an, als ob sie stirbt"
Gefragt, ob sie die Aversionen der Zuschauer gespürt habe, returnierte Scharapowa in gewohnter Eiseskälte: „Ich hatte tausend andere Gedanken im Kopf. Es gab Wichtigeres für mich.“ Doch nicht nur der „Guardian“ notierte, dass für die Tennisfans ein „kritischer Punkt“ überschritten worden sei – das Ende der Toleranz mit den mutwilligen Krachmacherinnen: „Die Leute wollen, dass man diese Entwicklung stoppt.“ Nicht nur Scharapowa werde zu spüren bekommen, „wie sehr dieses Stöhnen und Kreischen alle aufregt“, befand da Altmeister John McEnroe: „Ich weiss, dass es bei den meisten Fernsehanstalten massive Proteste der Fans gibt. Die sagen: Wir schalten nicht mehr ein, wenn das nicht aufhört.“ Der ehemalige Wimbledon-Oberschiedsrichter Alan Mills sagte, die Spielerorganisationen müssten den Profis klar machen, „dass eine Grenze des Erträglichen erreicht ist“: „Niemand will Matches sehen, bei dem du den Eindruck hast, da befinden sich zwei Polizeisirenen auf dem Platz.“ Über die Regeln einzugreifen, sei „extrem schwer“: „Wo ist das Limit? Wo sagt der Schiedsrichter: Das ist Absicht?“
Dass Handlungsbedarf besteht, illustrierte am späten Mittwochabend auch der letzte Auftritt von Newcomerin Michelle Larcher de Brito: Bei der Niederlage gegen die Italienerin Francesca Schiavone schwoll das Stöhnen und Quieken und Kreischen der 16-jährigen zu einem wahren Dezibel-Orkan an – genau so wie jüngst in Paris bei den French Open, wo sich erstmals auch die Spielerinnenorganisation WTA und der Internationale Tennisverband ITF mit dem Sünden-Fall beschäftigt hatten. „Sie hört sich an, als ab sie stirbt“, zitierte der „Daily Telegraph“ später die englische Zuschauerin Lucie Clements, die das zweifelhafte Spektakel bis zum verwandelten Matchball von Schiavone um 21.05 Uhr verfolgt hatte.
Inzwischen sabotieren die Wimbledon-Fans die grotesken Stöhnerinnen mit List: Als die Weißrussin Viktoria Azarenka bei ihrem spielerisch leichten 6:0, 6:0-Sieg gegen die Rumänin Raluca Olaru einschüchternde Schreie ausstieß, imitierten erst ein paar, dann aber ein paar Dutzend Fans die dubiosen Laute. Genervt schüttelte Azarenka den Kopf und meinte später: „Die Leute müssen das verstehen. Ich war ein schwaches Kind, und wenn ich stöhnte, konnte ich härter auf den Ball hauen. Irgendwie.“
Jörg Allmeroth