Safin: Abschied vom Lebemann

NEW YORK - In Flushing Meadow, wo Marat Safin im Jahre 2000 sein erstes Grand-Slam-Turnier gewann, tritt der Russe von der großen Tennis-Bühne ab. Nach einer schillernden Karriere mit Erfolgen und Skandalen.
Wenn er an den sonnigen Septembersonntag hier in New York denkt, an das magische US Open-Finale 2000, an seinen Sieg gegen Pete Sampras, dann hält er diese ganze Geschichte seines ersten Tenniscoups noch immer für ein „Wunder“: „Ich hatte damals noch gar nicht die Statur für diesen Titel“, sagt Marat Safin, „ich habe einfach drauflos gespielt. Und dann hat auf einmal das ganze Puzzle zusammengepasst.“
Fast ein Jahrzehnt nach dem sensationellen Volltreffer ist die Grand Slam-Karriere des schillernden, unberechenbaren, einst als Superstar des 21. Jahrhunderts gehandelten Moskowiter gestern dort zu Ende gegangen, wo sie einmal so richtig Fahrt aufzunehmen schien: In Flushing Meadow, in Runde eins der US Open 2009 mit einer 6:1, 4:6, 3:6, 4:6-Niederlage gegen den Österreicher Jürgen Melzer. „Es gibt keinen Rücktritt vom Rücktritt. Das war´s für mich“, sagte Safin mit einem lakonischen Grinsen, „es wird Zeit, ein neues Leben zu beginnen.“
Eine Karriere der verpassten Chancen
Als er damals gegen Sampras siegte, mit jugendlicher Unbeschwertheit und Furchtlosigkeit, mit überwältigender Power und filigraner Technik, dachten alle, der Moskowiter müsse im nächsten Jahrzehnt das Maß aller Dinge sein – der Spieler, an dem sich der Rest der Welt zu orientieren hat. Doch anders als dem langjährigen Weggefährten Roger Federer fehlte Safin das komplette Portfolio für eine machtvolle Dominanz an der Branchenspitze - Safin hatte zwar das Repertoire für serienweise Grand Slam-Titel oder längere Strecken als Nummer eins, aber nicht den klaren Kopf für diese Ausnahmestellung.
„Hätte Marat nur zehn Prozent der Hingabe seiner Schwester an diesen Sport, wäre er jahrelang der überragende Spieler gewesen“, sagt Ion Tiriac, der für den Russen stets die kommerziellen Geschäfte besorgte, „es ist eine Karriere der verpassten Chancen.“ Selbst der eiserne russische Davis Cup-Teamchef Schamil Tarpischew scheiterte beim Versuch, den Widerspenstigen und Wilden zu zähmen: „Er hatte das Potenzial, um eine Rolle wie Michael Schumacher in der Formel 1 zu spielen. Oder wie Tiger Woods im Golf. Aber er war nur mit halbem Herzen Profi.“ Safin sei der wohl stärkste Profi gewesen, „der nur so wenige Grand Slams gewonnen hat“, meint das US-Fachblatt „Tennis Weekly.“
Selbstfindungstrip auf einen Achttausender im Himalaya
Allerdings: Langweilig wurde es einem nie mit diesem kapriziösen Hauptdarsteller, der auf den Tennis-Tribünen dieser Welt immer mal wieder langbeinige, blonde Groupies versammelte, der mit seinem grimmigen, trockenen Humor die Medien unterhielt, der für einen Selbstfindungstrip auf einen Achttausender im Himalaya kletterte, der für die lieben Kollegen rauschende Partynächte schmiß – und der an guten Tagen stets jeden anderen Klassemann mühelos schlagen konnte. „Ich bin ein Typ, der in keine Schablone passt. Und Tennis konnte nie mein ganzes Leben sein“, sagt Safin, der am 20. November 2000 erstmals den Gipfel der Weltrangliste bestieg, „niemand kann aus seiner Haut heraus.“.
Im Grunde wurde der hünenhafte Moskowiter nie so richtig erwachsen als Berufsspieler, anders als andere Paradiesvögel wie Andre Agassi, die irgendwann ihr Leben komplett umkrempelten, um ein Champion zu werden. Verblüffend, aber wahr: Der große Roger Federer war in seinen Jugendjahren ein viel größerer Flegel, als es Kollege Safin später in seiner Karriere war. Aber auch er disziplinierte sich schnell, als er merkte, dass er sich selbst sein größter Gegner war.
Safin blieb sich im Guten wie im Schlechten aber leider treu: Ein begnadeter Spielertyp, aber eben auch ein Lebemann, ein Playboy-Imitat mit dicken Goldketten, ein Partykönig, der gern mal gesichtet wurde, wie er nächstens in angesagten Klubs Zigarren schmauchte und die Champagnergläser schwenkte. Eine letzte legendäre Fete sorgte im Januar für Schlagzeilen: Nach einer wüsten Diskoschlägerei in Moskau flog Safin zum Hopman-Cup mit grün, gelb und blau unterlaufenen Augen ein, verspätet, aber dennoch zufrieden: „Ihr hättet mal den anderen Typen sehen sollen“, rief er der Presse zu.
"Mein zweites Leben wird genau so interessant"
Ein letztes Mal hatte er 2005 so richtig zugeschlagen, als er bei den Australian Open Federer in einem dramatischen Halbfinale schlug und sich dann seinen zweiten Grand Slam-Titel holte. „Der Sieg war viel wichtiger für mich als der erste“, sagt Safin, „es war eine Bestätigung, dass ich solche Titel holen kann.“ Aber wer geglaubt hatte, Safin könne einen Schub fürs Ego bekommen, sah sich wieder einmal getäuscht: Federer, der damals Unterlegene, brach anschließend zu seinen Rekordjagden im Wanderzirkus auf, Safin dagegen versank im Mittelmaß.
Auf den letzten Metern seiner Karriere war er sogar zum familiären Juniorpartner von Schwester Dinara geschrumpft – der große, kleine Bruder der Nummer 1 der Welt. Man müsse sich "keine Sorgen um ihn machen“, sagte Safin am Mittwoch, als alles vorüber war auf der Grand Slam-Bühne: „Mein zweites Leben wird genau so interessant sein wie das im Tennis.“ Und Safin wäre nicht Safin, hätte er nicht den geliebten, verfluchten US Open zum Abschied noch einen Schwinger mitgegeben: „Wenn du dich hier an den ersten Tagen rumtreibst, wirst du verrückt. Da sitzen in der Spielerloge Eltern, Schwestern, Brüder, Omas und Opas herum. Du denkst, du bist im Zoo.“ Soviel sei klar, befand Safin: „Das werde ich nicht vermissen.“
Jörg Allmeroth