Ross Brawn geht: Ein Vettel-Jäger verliert sein Hirn
Nach wochenlangen Spekulationen verlässt Teamchef Ross Brawn tatsächlich den Mercedes-Rennstall. Der Abschied trifft das Werksteam in einer sensiblen Phase.
Brackley - Mercedes muss in der entscheidenden Phase der Jagd auf Sebastian Vettel auf Formel-1-Superhirn Ross Brawn verzichten. Im Disput um seine künftigen Kompetenzen verkündete der Teamchef seinen Abschied zum Jahresende und wird den Rennstall damit nicht mehr in die Regel-Revolution der Saison 2014 führen. „Es ist klar, dass man jemanden nicht aufhalten kann, wenn er sich dazu entschlossen hat, zu gehen“, sagte Team-Aufsichtsratschef Niki Lauda am Donnerstag. Nun sollen der ehemalige McLaren-Technikchef Paddy Lowe und Mercedes-Motorsportboss Toto Wolff eine Doppelspitze beim Werksteam bilden.
Vergeblich hatte vor allem Lauda in vielen Gesprächen versucht, Brawn zum Bleiben zu bewegen. Mit Blick auf die umfassende Regelreform mit völlig neuen Turbomotoren im kommenden Jahr und dem erhofften Großangriff auf Vettels Red-Bull-Team schien Brawns Expertise als Weltmeistermacher unverzichtbar. Doch der 59-Jährige wollte anders als die Konzernvertreter nicht neben mehreren Entscheidern an der Teamspitze weiterarbeiten. Es sei der „richtige Zeitpunkt“ für seinen Weggang, befand der Brite.
Schon am Mittwoch hatte Brawn seinen Entschluss den Mitarbeitern in der Mercedes-Fabrik erklärt. „Ich bin überzeugt, dass die Zukunft noch viele Erfolge für dieses Team bereithalten wird und es erfüllt mich mit Stolz, dass ich dann meinen Beitrag dazu geleistet haben werde“, sagte Brawn und beendete damit die wochenlangen Gerüchte um seinen bevorstehenden Rückzug. „Es war eine tolle Erfahrung, mit Ross zu arbeiten. Er ist ein großartiger Anführer und wir haben besondere Zeiten geteilt“, twitterte Silberpfeil-Pilot Nico Rosberg.
Brawn gilt als einer der findigsten Ingenieure der Branche und als gewiefter Taktiker am Kommandostand. Bei Benetton und Ferrari hatte er Rekordchampion Michael Schumacher zu all seinen sieben Titeln geführt. 2009 übernahm er nach einem Jahr als Teamchef das sportlich erfolglose Honda-Team, fand eine Lücke im technischen Regelwerk und wurde mit BrawnGP prompt wieder Weltmeister. Danach verkaufte er den Rennstall mit sattem Gewinn an Mercedes, blieb aber als Teamchef.
Es folgten drei frustrierende Jahre mit dem reaktivierten Schumacher, in denen die Silberpfeile nie zur Spitze aufschließen konnten. Erst in der abgelaufenen Saison gelang die Wende. Rosberg und Neuzugang Lewis Hamilton holten drei Siege, acht Pole Positions und Platz zwei in der Konstrukteurswertung hinter Branchenführer Red Bull. „Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Titelgewinn“, meinte Brawn. Er selbst will auf dem letzten Wegstück nicht mehr mitwirken.
Mit der Verpflichtung von Lowe hatte Mercedes schon während der Saison für diesen Fall vorgebaut. Der 51 Jahre alte Brite gilt ebenfalls als Spitzen-Ingenieur, muss aber seine Führungskraft als Team-Häuptling erst noch beweisen. Dagegen hat sich der Österreicher Wolff schon in seiner ersten Saison als Mercedes-Motorsportchef als meinungsstarker Entscheider präsentiert. „Ich bin fest davon überzeugt, dass Toto und Paddy auf der guten Arbeit von Ross aufbauen werden und sie genau die erforderlichen Fähigkeiten besitzen, um unser Team zum Gewinn der Weltmeisterschaft zu führen“, sagte Daimler-Boss Dieter Zetsche.
Brawns Zukunft ist dagegen offen. Hartnäckig halten sich Spekulationen, der Brite werde wieder zu Honda gehen. Der japanische Autohersteller kehrt 2015 als Motorenlieferant für McLaren in die Formel 1 zurück. Aber auch Williams, McLaren und Ferrari wurden als Optionen gehandelt. Sogar eine Rolle beim Weltverband FIA gilt als möglich. Denkbar ist aber auch, dass der passionierte Angler und Rosenzüchter wie schon 2007 nach seiner Zeit bei Ferrari eine längere Auszeit nimmt oder sogar ganz in die Formel-1-Rente geht.