Reportage: Mit zwei Extremskifahrern übers Limit

Ein Weizenfeld. Sachte schwingen die Halme im Wind hin und her. Nichts deutet daraufhin, dass sich hier gleich in dünner Höhenluft mehrere Dramen von beinahe tödlichem Ausmaß abspielen werden.
Die Kamera zieht auf, und der Betrachter erlebt den ersten von nicht gerade wenigen Aha-Momenten in diesem gut 70-minütigen Film, der so ganz anders ist als der übliche Ski-Porn mit coolen Typen in staubendem Pulverschnee. Man sieht, wie die zwei Männer in T-Shirts, kurzen Hosen und samt Skiern am Rucksack einen Bergpfad entlanglaufen und sich mit einem Mal ein Bergmassiv vor ihnen auftut, das mit monumental nur unzureichend beschrieben ist.
"Wenn du solche Berge siehst, willst du unbedingt da runter fahren!"
Man kennt diesen Berg: Es ist der Artesonraju in Peru, bekannt als Vorbild für das Logo von Paramount Pictures. Jérémie Heitz schwärmt: "Wenn du solche Berge siehst, willst du unbedingt da runter fahren!" Nun ja, da gehen die Meinungen auseinander.

Aber Heitz ist auch kein gewöhnlicher Skifahrer, sondern einer der extremsten dieses Planeten. Jahrelang war der eher schmächtige Bursche auf der Freeride World Tour unterwegs und galt dort immer als der mit Abstand schnellste Fahrer. Häufigster Kommentar von Zuschauern bei seinen Husarenritten: "Holy shit!" 2016 hatte er genug vom Wettkampf, dafür aber eine andere, wilde Idee: Im Film "La Liste" fuhr er mit seinem Schweizer Kompagnon Sam Anthamatten eine Reihe der anspruchsvollsten Abfahrten in den Schweizer Alpen in Rekordspeed ab. Bilder von purer, berückender Schönheit. In "La Liste - everything or nothing" ging es nun ein paar Etagen höher: von 4.000 hoch auf 6.000 Meter, in die Anden Perus und in den pakistanischen Karakorum. In eine Region, in der der menschliche Körper viel mehr tun muss, um zu überleben. Und auf Berge hinauf, so steil, dass die kein Mensch besteigen will, schon gar nicht mit Skiern.
Fast drei Jahre sollte das Projekt dauern, dabei sah es so aus, als wäre schon nach der ersten Station in Peru Schluss. Denn als die beiden samt Fotograf und Kameramann endlich die lang herbeigesehnte Abfahrt am anderen Ende der Welt unter die Ski nahmen, funkte Heitz schon nach wenigen Metern: "It's not skiable." Unfahrbar. Und das nach all den Mühen! Wochenlange Anreise, zwölf Stunden Aufstieg vom Basecamp zum Gipfel.

Doch es kam noch viel schlimmer: Der Fotograf stürzte auf dem eisigen, höllensteilen Geläuf schwer, und hätte Heitz den unkontrolliert bergab Kreiselnden nicht bremsen können, er wäre hilflos in die Tiefe und damit in den sicheren Tod gerauscht. Mit Skiern und Lawinenschaufel bauten sie einen Notschlitten, auf dem sie den Fotografen festbanden und entlang von zig Gletscherspalten ins Tal brachten. "Er war so unterkühlt, dass wir ihn erst aufwärmen mussten", erzählt Heitz, "rein ins Zelt, in den Schlafsack, heißes Wasser kochen. Das hat ihm das Leben gerettet." Bis zu dem Punkt, wo ihnen die Ambulanz entgegenkommen konnte, waren es noch 18 Kilometer durch unwegsamste Berglandschaft. Bis sie den Schwerverletzten im Krankenhaus hatten, vergingen 15 Stunden. Dort ging der Ärger weiter, berichtet Heitz: "Es gab so viele Missverständnisse! Sie wollten ihn am unteren Rücken operieren, dabei waren seine Brustwirbel gebrochen. Wir waren die cash cow, die gemolken werden sollte."
Nach Skifahren sieht diese Felsnadel auch nicht aus
Zurück in der Schweiz war an Teil zwei der Expedition nicht zu denken. Erst nach vielen Gesprächen mit dem allmählich Genesenden brachen Heitz und Anthamatten doch noch nach Pakistan auf, ebenfalls komplettes Neuland für beide. Ihr Ziel: Laila Peak, 6.096 Meter hoch, ein ikonografisches Stück Berg, spitz zulaufend, "in der Kletter-Szene wohl bekannt", meint Anthamatten, "in der Ski-Szene eher nicht so".
Kein Wunder, nach Skifahren sieht diese Felsnadel auch nicht aus. Es war dann am Ende auch nur Anthamatten vergönnt, vom Gipfel abzufahren - Heitz muss sich beim Aufstieg auf etwa 5.300 Metern mehrfach übergeben und kehrte lieber um. Ein paar Tage später rauschte ein Hang, den Anthamatten zuvor erklommen und mit Skiern befahren hatte, komplett in die Tiefe - sechs Stunden danach. "Niemand konnte sich das erklären", erzählt der Schweizer, "das alles hat uns gezeigt, dass wir nicht am richtigen Ort waren für das, was wir machen wollten. Deswegen haben wir auch sofort beschlossen, woanders hinzugehen. Für mich war das ein Augenöffner: Don't push too much! Die Berge schienen uns zu sagen: Okay Jungs, genug gespielt, und jetzt ab nach Hause!"
"Es war eine gewaltige Erfahrung"
Zwei Jahre später kehren sie zurück und finden abseits von Laila Peak genug Lines. "Die Zukunft des Big-Mountain-Skiing liegt in Pakistan", schwärmt Heitz, "es gibt so viele Optionen. Berge, die noch nicht mal einen Namen haben." Sein Fazit nach der so intensiven Zeit: "In meinem Kopf bin ich sicher zehn Jahre älter und erfahrener. Ich habe definitiv einen anderen Zugang als beim ersten Film. Es ist mehr ein Berge besteigen als sie mit Skiern zu befahren. Eine natürliche Evolution."
Kumpel Anthamatten meint: "Es war eine gewaltige Erfahrung. Wenn über Monate und Jahre immer alles gut geht, wächst man nicht. Ich denke, dass diese Erfahrung auch unsere Erwartungen und Handlungen beeinflusst. Wir leben in einer Welt, in der es nur um höher und schneller geht, immer weiter und noch weiter. Aber irgendwann bist du an der Grenze - und du solltest besser nicht weiter gehen."
Die Doku "La Liste - everything or nothing" läuft aktuell in München im Musem Lichtspiele und im Cadillac & Veranda.