Post aus Wimbledon: Wundertüten

Wie man trotz Verkehrs-Chaos doch immer wieder zum Tennis-Spektakel kommt in London - und worüber AZ-Kolumnist Gunther Beth noch staunt.
Die Engländer sind ja gern und unentwegt am liebsten unter sich. Es gibt jedoch Zeiten, in denen selbst der gewöhnlichste Ausländer mit ihnen in persönlichen Kontakt kommt. In London-City leben rund zehn Millionen Menschen, aber ich habe das Gefühl, mindestens elf Millionen benutzen jeden Tag mit mir zusammen die U-Bahn nach Southfields - zu Deutsch: Wimbledon.
Denn um zu den „All England Championships“ zu gelangen, muss man ja eine Station vor Wimbledon aussteigen. Auf dem Bahnsteig herrscht ein so heilloses Gedränge, dass man eigentlich umkehren möchte, aber es geht nicht mehr, und von da an verliert man jeglichen Einfluss auf die Entwicklung der Dinge. Dass man irgendwann tatsächlich ankommt, gehört zu den absoluten Wundern dieses wundervollen Turniers.
(Fast) einem Wunder gleich erscheint auch die Tatsache, dass mit Tommy Haas und Sabine Lisicki tatsächlich zwei deutsche Spieler im Viertelfinale stehen: Der „Tommynator“ hat es mit dem Serben Novak Dokovic zu tun und unser „Fräulein Bum Bum“ schlägt gegen Dinara Safina aus Russland auf.
Es ist noch gar nicht so lange her, da hat Haas über den ehemals verhassten Rasen von Wimbledon voller Frust geäussert: „Gras ist nur was für Kühe!“ Aber was schert einen, der hier zum erstenmal unter die besten Acht gelangt ist , sein Geschwätz von gestern? Mit 31 ist er der älteste Spieler im Viertelfinale, und als er neulich gefragt wurde, was er überhaupt noch für Ziele hätte, antwortete er allen Ernstes: „Nur noch die Grossen ein bisschen ärgern...“ Wenn ihm das auch heute nachmittag gegen Djokovic wieder gelingt, ist Tommy auch mein „Geheimfavorit“ für den Titel. Geheimfavoriten sind, wie John Mc Enrioe gestern in der BBC erklärte, „Typen, gegen die die Spitzenspieler immer mit einem ganz unguten Gefühl antreten.“ Also ich hab ein gutes Gefühl.
Und was Sabine Lisicki betrifft: Bis vor zehn Tagen hatte sie noch kein einziges Match auf Rasen gewonnen, was auch an ihrem „Gras-Schnupfen“liegt, einer ziemlich schlimmen Allergie gegen alles was blüht. Aber jetzt blüht ihr vielleicht der Wimbledon-Titel?!... Wenn das kein wahres Wunder wäre! Adrenalin macht ja merkwürdige Sachen mit einem Menschen - vor allem mit einem 19 Jahre jungen Menschen, der sich als sportliches Ziel die Nummer eins gesetzt hat und damit tatsächlich die Nummer eins der Welt meint.
Ein Mensch, der sich die grossen Centre Courts dieser Welt „vorgenommen“ und keine Angst vor grossen Tieren hat: „Mir ist es vollkommen egal, wer auf der anderen Seite des Netzes steht“. Sabine Lisicki ist das, was man im Show-Geschäft eine „Rampensau“ nennt - und der internationale Tennis-Zirkus ist eine Resen-Show. Nun ist „Bienchen-Bum-Bum“ seit zehn Jahren also die erste Deutsche nach Steffi Graf, die ins Viertelfinale von Wimbledon vorg estossen ist. Und auf der anderen Seite des Netzes steht heute mit Dinara Safina die Nummer eins der Weltrangliste - also exakt jene Position, die Fräulein Lisicki für sich vorgesehen hat...
Aber auch wenn‘s nix werden sollte mit Halbfinale oder gar Wimbledon-Sieg - lieber Tommy, liebe Sabine, ihr habt es mit euren bisherigen acht Matches hier seit langem mal wieder geschafft, dass sich der Blutdruck bei mir ohne meine Erlaubnis extrem beschleunigt hat. Und das kann mir keiner mehr nehmen. Ich danke Euch!
Gunther Beth, Schauspieler & Komödien-Autor (u.a. „Der Neurosen-Kavalier“, „Trau keinem über 60!“), lebt in München. Seit 2004 ist er Wimbledon-Kolumnist der AZ