Post aus Wimbledon: Viele Wege führen ins Halbfinale

AZ-Kolumnist Gunther Beth über den langen Weg in die berühmteste Tennisanlage und das größte Familienfest der Welt.
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AZ-Kolumnist Gunther Beth über den langen Weg in die berühmteste Tennisanlage und das größte Familienfest der Welt.

Viele Wege führen zum Halbfinale - der längste ist die Warteschlange vom U-Bahnhof Southfields zur Anlage. An sich nur ein knapper Kilometer, aber man muss sich auf ein bis zwei Tage einstellen, ausreichend Verpflegung mitnehmen und möglichst keine Sextanerblase haben.

Wer sich darauf einlässt, hat die Chance, ein neuer Mensch zu werden. Denn endlich kommt man dazu, das zu tun, was man schon immer mal machen wollte: Nachdenken. So kann man sich nicht nur locker ein Jahres-Abo beim Seelendoktor sparen, sondern auch gleich die Selbsterfahrungsgruppe in Indien. „Queuing at Wimbledon“ ist ein faszinierendes Rendezvous mit sich selber.

Wer noch andere treffen will, hat die Auswahl unter circa 900 Typen jeder Couleur. Mit ein bisschen Glück kann man bis zum Einbruch der Dunkelheit schon die Kassenhäuschen sehen. Aber sollte man jetzt nicht doch lieber sein Zelt aufschlagen und ein kleines Barbecue veranstalten? Der Mond scheint schliesslich auch für Schlangesteher ...

So war‘s bisher. Aber nun ist alles anders. Im Wassermann-Zeitalter sind sogar in und um Wimbledon Veränderungen spürbar. Der Hofknicks der Damen beim Betreten des Centre Courts ist ebenso abgeschafft wie der Sieger-Walzer der beiden Titelträger beim Champion‘s Dinner, vor dem der 17-jährige Boris Becker nach seinem Sensationssieg 1985 mehr Angst hatte als vor Kevin Curren, Ivan Lendl und Stefan Edberg zusammen.

In diesem Jahr hat man den „All England Lawn Tennis & Croquet Club“ für 120 Millionen Euro edel ausgebaut und dem Centre Court ein fesches Glasdach aufgesetzt. Aber das ist noch nicht alles: Wimbledon hat sogar einen neuen grünen Rasen zu bieten! Auf ihm vereinigen sich jetzt alle, die vor den Kartenhäuschen nach Tagestickets anstehen. Traditionell verbrachten die leidenschaftlichen Fans die Nacht vor dem Tag mit eigener Campingausrüstung auf der Strasse in zwei verschiedenen Schlangen (siehe oben).

Nun aber sind die Karten-Camper auf eine nahe gelegene Wiese gebeten worden, die der örtliche Golfclub ausgeliehen hat. Dort stehen ihnen eigens angeschaffte Übersee-Container zur Verfügung, in denen man seine Luftmatratzen, Spirituskocher und Zelte verstauen kann. Punkt sechs Uhr früh erscheinen die höflichen Stewards des „A.E.L.T.C.“ auf der Wiese zum Wecken. Um halb sieben öffnen die Container, um halb acht verteilen die Helfer bunte Armbändchen an jene, die an der Spitze der Schlange warten und somit eine Chance haben, Sitzplätze für den Centre Court oder die beiden nebenan liegenden Show-Courts 1 und 2 zu ergattern.

Die Hinteren in der Reihe, die inzwischen ihre tägliche Rekordlänge erreicht hat und sich mit surrealistischen Biegungen über Wiesen und Parkplätze windet, bekommen bloss noch Nummern, die ihren Rang in der Warteschlange bezeichnen. Aber mit diesen Nummern haben auch sie ganz gute Chancen, auf die Anlage zu kommen und heute nachmittag Roger Federer, Tommy Haas, Andy Murray und Andy Roddick bei der Arbeit zuzugucken, und sei es nur auf der Grossleinwand vor der Picknickwiese.

Aber das ist ja nun ein ganz besonderes Gemeinschaftserlebnis: Nirgendwo sonst habe ich bisher so viele glückliche, friedliche und zufriedene Zeitgenossen auf einem Haufen gesehen. Wimbledon ist und bleibt Londons größtes Familienfest, auf dem man Stimmungsbilder erlebt, die sich für immer einprägen.

Gunther Beth, Schauspieler & Komödien-Autor (u.a. „Der Neurosen-Kavalier“, „Trau keinem über 60!“), lebt in München. Seit 2004 ist er Wimbledon-Kolumnist der AZ)

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