Post aus Wimbledon: England sucht den Superstar

Man darf nicht alles glauben, was in der Zeitung steht, schon gar nicht wenn der britische „Express“ am Werk ist. Nach dem „Wembley-Tor“ von Bloemfontein verkündete er „Das Ende des Fußballs“. Die AZ-Kolumne von Gunther Beth.
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*  Gunther Beth, Schauspieler &  Autor („Der Neurosen-Kavalier“, „Trau keinem über 60!“) lebt in München. Seit 2004 ist er Wimbledon-Kolumnist der AZ
AZ * Gunther Beth, Schauspieler & Autor („Der Neurosen-Kavalier“, „Trau keinem über 60!“) lebt in München. Seit 2004 ist er Wimbledon-Kolumnist der AZ

MÜNCHEN - Man darf nicht alles glauben, was in der Zeitung steht, schon gar nicht wenn der britische „Express“ am Werk ist. Nach dem „Wembley-Tor“ von Bloemfontein verkündete er „Das Ende des Fußballs“. Die AZ-Kolumne von Gunther Beth.

„The Sun“ tröstete: „Immerhin scheint die Sonne noch“. Aber die Mehrheit der Engländer scheint das 1:4 gegen Angstgegner Deutschland inzwischen ganz gut verdaut zu haben. Von „kollektiver Schockstarre“ kann in London jedenfalls nicht die Rede sein. Kein Vergleich mit dem „Day after“ nach dem verlorenen Elfmeterschießen im Halbfinale der EM 1996 im alten Wembley-Stadion. Das Ticket hat noch immer einen Ehrenplatz unter meinen Devotionalien! In jener Nacht hatte auch ich offenbar noch ein paar Strafstöße verwandelt, denn als ich morgens schweißgebadet erwachte, machte meine Frau mich darauf aufmerksam, daß ich einen der Bettpfosten abgeschossen hatte. Und an einem Obststand in der Oxford Street kullerten dem Inhaber, während er uns Kirschen einpackte, dicke Krokodilstränen über die blassen Wangen. Diesmal jedoch gibt es in der Bevölkerung und in der seriösen Presse an dem ebenso souveränen wie begeisternden Sieg der „Krauts“ keinen Zweifel, aber den konstruktiven Vorschlag, jetzt knallhart auf Tennis umzuschwenken. Das erscheint für das Mutterland der Filzkugeln allerdings auch bitter nötig. „Wir sind schon dran!“ sagt Roger Draper vom britischen Tennis-Verband. England sucht den Superstar. Eine erfolgreiche Nachwuchsförderung aufzubauen, dauere jedoch - so Draper - so lange, wie eine wirklich innovative Arznei zu entwickeln: zehn bis zwölf Jahre. Bei den Sechs- bis Zehnjährigen aber seien die Ansätze durchaus erfreulich. Das heißt: Es gibt Hoffnung - für die Jahre ab 2020...

Was man jetzt wirklich bräuchte, wäre ein wahres Märchen, wie sie nur in Amerika stattfinden. Zum Beispiel so: Es war einmal im Wilden Westen Kaliforniens im Jahre 2002, als der kleine Jan Silva buchstäblich auf dem Tennisplatz geboren wurde. Die Fruchtblase seiner Mutter Mari platzte, als sie eine Trainerstunde gab. Mittlerweile wird der Junior als "Tiger Woods des Tennis" gepriesen. „Mit seiner Athletik kann er im Tennis alles erreichen“, tönt sein Vater Scott. "Wirklich alles!" Auf seiner Internetseite „www.jansilvatennis.com“ steht: „Was Mozart am Klavier war, ist Jan auf dem Tennisplatz.“ Acht Jahre alt ist er nun und genießt ein Stipendium an der „Mouratoglue Tennisakademie“ in der Nähe von Paris. 100 000 Euro kostet die Talentschmiede pro Jahr, aber man sei bereits im Gespräch mit dem Sportartikelriesen „Nike“ als Sponsor. Haben die Eltern keine Angst, daß ihr Kind nicht die Schule vernachlässigt? Scott Silva: „Wozu braucht ein Tenniss pieler eine Schulausbildung?“ - Und wenn dieses Lebensmodell scheitert? „Es wird nicht scheitern. Basta.“

Bei dem oben erwähnten Tiger Woods ging die Rechnung tatsächlich auf. Dessen Vater zerrte den Kleinen schon mit neun Monaten zum ersten Mal auf den Golfplatz, und mit zwei Jahren puttete der Knirps in einer Fernsehsendung gegen den Komiker Bob Hope. Amerika war entzückt und alle kannten das Wunderkind, das zum Golf-Superstar werden sollte. „Gott selbst hat ihn auserwählt!“ sprach Papa Woods pathetisch. „Er wird die Macht haben, Nationen zu beeinflussen. Nicht Menschen - Nationen!“ Über die Risiken und Nebenwirkungen allerdings weiß die Welt inzwischen auch Bescheid.

Gunther Beth

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