Post aus Wimbledon: Der alte Mann und das Mehr
Genug ist nicht genug: AZ-Kolumnist Gunther Beth über Wimbledon und einen rüstigen Tennis-Rentner namens Nick Bollettieri, der am 31. Juli seinen 78. Geburtstag feiert.
Um 4 Uhr 15 klingelt der Wecker, noch neben dem Bett absolviert er 50 Sit-ups und 30 Seitbeugen, danach geht‘s eine Stunde ins Fitness-Studio, von 6 Uhr 30 bis 19 Uhr steht er auf dem Platz. Vor 22 Uhr kommt er nie nach Hause und vor Mitternacht selten ins Bett. Nicolas Kiefer? Philipp Kohlschreiber? Rainer Schüttler? Mitnichten! Die Rede ist von Nick Bolletieri. Seine berühmte „Tennis-Akademie“ in Florida hat seit 1993 nicht weniger als zehn Weltranglisten-Erste hervorgebracht, darunter die Wimbledon-Champions Boris Becker, Andre Agassi, Venus und Serena Williams, Martina Hingis und Maria Scharapowa. Aber er will mehr. Immer mehr! Genug ist nicht genug.
Der „Bolletieri-Weg“ ist sowas wie der „Jakobs-Weg“ zum Spitzen-Tennis. „Ganz wenige meiner Schüler schaffen den Weg ins Profilager, aber “, konstatiert der Meister in seinem unerschütterlichen Selbstbewußtsein, „wer bei mir war, der hat fürs Leben gelernt.“ Und zwar: Harte Arbeit, Disziplin, körperliche Fitness und mentale Belastbarkeit. Seine neueste Entdeckung ist gerade mal zehn Jahre jung, heißt Maria Schischkina und kommt aus Kasachstan. „Das größte Talent, das ich je gesehen habe!“Okay, ich hab‘s mir notiert. Abwarten und Tee trinken - am besten Assam Superb, First Flush von „Fortnum & Mason‘s“, Piccadilly, SW London.
Hier fühlt sich der „Guru“ fast genauso wohl wie zu Hause in Manatee County am „Bollettieri Boulevard“, der einzigen Straße in Florida, die den Namen eines lebenden Zeitgenossen trägt. Im „All England Club“ eilt er von Platz zu Platz, um hinter seiner spiegelnden Sonnenbrille alle seine Lieben zu beobachten und ihnen in seiner stärksten Eigenschaft als Motivationskünstler beizustehen. Für seine Aufzeichnungen am Spielfeldrand benötigt er noch immer keine Lesebrille, und wann immer die Witterung es erlaubt - so ab gefühlten 18 Grad Celsius - entblößt er seinen gestählten Oberkörper. Da staunt der Laie und seine acht Ehefrauen und 5 Kinder wundern sich.
Am Montag hat er sich Tommy Haas bei dessen Erstrunden-Begegnung gegen den Österreicher Alexander Peya angeschauen. Tommy kam als Elfjähriger in die Tennis-Akademie, hielt es zunächst nicht aus, kehrte aber mit 13 wieder zurück. Und heute mit 31? „Oh“, meint Bolletieri. „Er kann diesmal ganz weit kommen. You know. Oberhalb der Gürtellinie, also mental, sind die Deutschen sehr stark. Nur unterhalb nicht so ganz. Außer Boris...“ Und dabei grinst er mit den weißesten Jacketkronen, die es je gab.
PS: Am 31.Juli wird er achtundsiebzig.
Gunther Beth, Schauspieler & Komödien-Autor (u.a. „Der Neurosen-Kavalier“, „Trau keinem über 60!“), lebt in München. Seit 2004 ist er Wimbledon-Kolumnist der AZ.