Post aus Wimbledon: „Andy will you Murray me?"
Die Zeichen stehen auf Palast-Revolution: Erstmals nach 73 Jahren könnte wieder ein Brite auf dem heiligen Rasen gewinnen. AZ-Kolumnist Gunther Beth über Wimbledon und die Sehnsucht nach einem eingeborenen Tennishelden.
Briten sind ja eigentlich wie Haustiere, also am glücklichsten, wenn sich nie etwas verändert, das nennt sich dann Tradition. Und so hatte man sich hier auch wieder auf das traditionelle Finale Roger Federer gegen Rafael Nadal eingestellt. Aber nun ist Nadal wegen Kniebeschwerden gar nicht erst angetreten. Also setzt sich King Roger seine Krone einfach wieder auf?
Nein, von einfach wird keine Rede sein können. Denn in diesem Sommer stehen die Zeichen auf Palast-Revolution: Der Centre Court hat endlich ein Dach bekommen und die Nation einen echten Titelaspiranten: Jetzt macht sich nämlich Andy Murray auf, den Wimbledon-Titel nach 73 (!) Jahren wieder heim ins United Kingdom zu holen, wo dieser Sport schließlich erfunden worden ist. Seit er zur Nummer 3 der Welt aufgestiegen ist und vergangene Woche auch noch das Rasen-Vorbereitungsturnier in Queens gewann, hat der 22-Jährige die britische Sehnsucht nach einem eingeborenen Tennishelden wieder neu entfacht. Wer hätte das gedacht?...
Anno 2003, ein Jahr bevor er starb, hat Peter Ustinov mir noch erzählt, dass es kein Zufall sei, dass die Briten keine großen Spieler mehr hervorbringen. „Wer hier zur Schule geht, lernt vor allem, würdevoll und elegant zu verlieren - und verlernt dabei, wie man gewinnt.“
So wie Tim Henman, die bisher letzte Hoffnung der Insel. Zwischen 1998 und 2002 hat er es fast regelmäßig ins Halbfinale geschafft, um dann dort regelmäßig auszuscheiden. Ihm haben sie hier den „Henman Hill“ errichtet, den riesigen Picknick-Hügel vor der Großleinwand, wo sich täglich Abertausende von Tennis-Touristen aus aller Welt treffen und der Begriff „Public Viewing“ kreiert wurde. Aber die „Henmania“ hat sich nach all den Enttäuschungen längst wieder verflüchtigt - „Tiger Tim“ gilt inzwischen sozusagen als menschliche Form der Farbe beige. Und nach seinem letzten Flop im 12. Anlauf (2005) hat die bekannt sensible britische Presse ihm empfohlen, entweder zum Psychiater oder ins Kloster zu gehen.
Nun aber ist die große alte Dame Wimbledon von Kopf bis Fuß auf Murray eingestellt, und auf der Anlage halten weibliche Teenager Plakate wie „Andy will you Murray me ?!?“ hoch - ein Wortspiel mit dem englischen „marry“ (heiraten). Dabei hat der Umworbene mit einem Herzensbrecher ungefähr so viel gemeinsam wie früher Buster Keaton mit Rudolfo Valentino. Andy Murray ist ein gerader, aber ziemlich schroffer Typ, der gern unverblümt sagt, was er denkt und die Nation damit schon oft brüskiert hat. Zum Beispiel, als er sich bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland lauthals über den Sieg Portugals über die englische Elf Freude hat. Und seine Einstellung zu Wimbledon empfindet man auch als ziemlich grenzwertig - hat er doch neulich gesagt: „Das einzig Wichtige an diesem Turnier ist, dass ich es gewinnen will. Nur deswegen bin ich hier. Basta. Deswegen sind wir alle hier. Jeder von uns lechzt danach, das „Goldene W“ zu knacken.“
Und Murray lechzt vielleicht am intensivsten. Ich jedenfalls halte es absolut für möglich, dass er es schafft. Dann würde man den „Henman Hill“ bestimmt in „Mount Murray“ umbenennen und Andy so gut wie alles verzeihen. Sogar, dass er gar kein Engländer ist, sondern nur Schotte.
Gunther Beth, Schauspieler und Komödien-Autor („Der Neurosenkavalier", „Trau keinem über 60"), lebt in München. Seit 2004 ist er Wimbledon-Kolumnist der AZ.