Post aus Wimbledon: Adieu Roger und auf Wieder-Siegen!

Die Ära Roger Federer ist am Mittwoch zu Ende gegangen. Aber diese erstaunlich glatte Niederlage jetzt ist viel fataler, weil sie so etwas wie eine „Tennis-Götterdämmerung“ bedeutet. Die AZ-Kolumne von Gunther Beth.
Die Ära Roger Federer ist am Mittwoch zu Ende gegangen. Nach 7 Wimbledon-Finalteilnahmen hintereinander seit 2003 und dabei 6 Siegen scheiterte er im Viertelfinale an dem Tschechen Tomas Berdych, der ihn schon vor 6 Jahren bei den Olympischen Spielen in Athen aus dem Wettbewerb warf. Aber diese erstaunlich glatte Niederlage jetzt (4:6, 6:3, 1:6, 4:6) ist viel fataler, weil sie so etwas wie eine „Tennis-Götterdämmerung“ bedeutet. Für mich persönlich heißt das jetzt, Trauerarbeit leisten. Aber, ehrlich gesagt, eine markerschütternde Überraschung war es nicht. Federers ungewohnte Formschwäche sowohl beim Vorbereitungsturnier im westfälischen Halle (Niederlage gegen Lleyton Hewitt) hat sich auch in den ersten Runden an der Church Road nahtlos fortgesetzt - und Berdych (24) nutzte die Unsicherheiten des 28jährigen Schweizers erbarmungslos aus. Adieu Roger - und hoffentlich Auf-Wieder-Siegen!
Denn man sollte nicht vergessen, daß der große Pete Sampras, mit dessen 7 Wi mbledon-Titeln (1993, 1994, 1995, 1997, 1998, 1999 und 2000) Federer in diesem Jahr so gerne gleichziehen wollte, nach seinem letzten Erfolg hier statt aufzuhören noch zwei Jahre erfolglos über die Plätze taumelte. Doch er spürte noch einen letzten großen Grand-Slam-Sieg in sich, schaffte ihn tatsächlich im September 2002 bei den US Open und verabschiedete sich so, wie es kaum einer Sportlegende - weder Max Schmeling noch Franz Beckenbauer (als Libero) und auch nicht Steffi Graf - vergönnt war: mit einem First-Class-Triumph. Und genau das traue ich Federer noch zu.
Auch Yen-Hsun Lu ist am Mittwoch ausgeschieden, aber wie dieser Nobody das Viertelfinale erreicht hat, das ist sicher die bisher größte Sensation dieses Turniers und weckt prägnante Erinnerungen:
Jedem Tennis-Fan, der den Mauerfall bewußt miterlebt hat, stockt noch immer der Atem, wenn er an die Szene denkt, die sich im selben Jahr 1989 im Achtelfinale der French Open abgespielt hat: Ein gewisser Michael Te-Pei Chang, 17jähriger Sohn taiwanischer Einwanderer in die USA, gewann in einem der spektakulärsten Tennis-Matches der Neuzeit gegen die jahrelange Nummer 1 der Branche, Ivan Lendl. Mehrmals lag Chang, von Krämpfen gebeutelt, fast bewußtlos auf dem Platz, rappelte sich aber immer wieder auf. Lendl verzweifelte an der unorthodoxen Spielweise dieses erstaunlichen Jungen, der am Schluß völlig entkräftet seinen Aufschlag als einfache Vorhand über das Netz brachte. Im Finale besiegte „der Typ, an dem ganz Paris verzweifelte“ („Le Monde“) auch noch Stefan Edberg und wurde zum jüngsten Gewinner eines Grand Slam-Turniers..
Nun hat uns ein gewisser Taiwaner namens Yen-Hsun Lu (28) eine adäquate Gänsehaut beschert. Es war ein Déjà-vu der ganz besonderen Art: Da steht ein Asiate im Viertelfinale von Wimbledon und nichts, aber auch gar nichts, hat darauf hingedeutet. Es gibt jedoch ein altes chinesisches Sprichwort, das heißt: Alles kommt zu dem, der warten kann. Und Herr Lu konnte in seinem turbulenten Match gegen den stolzen Vorjahresfinalisten und haushohen Favoriten Andy Roddick mehr als nur warten. Im vierten Satz schien sich alles so zu entwickeln wie immer bei den „Beinahe-Sensationen“: Der Favorit hat gewackelt, aber gewinnt am Ende doch noch, weil der Außenseiter Nerven zeigt und ihn die Angst vor der eigenen Courage lähmt.
Aber da entwickelt Mister Lu einen so ungeheuren Siegeswillen, der ihn schließlich zu einem nie für möglich gehaltenen 4.6, 7:6, 7:6, 6:7, 9:7 führt. „Das ist der größte Moment meines Lebens!“ jubelte er und widmete diesen Sieg noch auf dem Platz s einem verstorbenen Vater, der ihm das Tennisspielen erklärt und ihm Mut und fernöstliches Durchhaltevermögen beigebracht hat. Das konnte er gebrauchen, denn in zehn Jahren auf der ATP-Tour hat er noch keinen einzigen Titel gewinnen können, dafür jedoch schwere Rückschläge wie einen komplizierten Bandscheibenvorfall und das „Pfeiffersche Drüsenfieber“ erleiden müssen. Nun ist ganz Taiwan stolz auf Yen-Hsun, der keinesfalls in die väterliche Hühnerzüchterei in Taipeh einsteigen wollte, weil es ihm da „zu sehr gestunken“ hat, wie er freimütig auf seiner ersten Pressekonferenz erzählt. Als er auf seine exzellente Beinarbeit angesprochen wird, lächelt er wie Buddha: „Wissen Sie, ich mußte als Kind immer die Hühner einfangen. Das tut man am besten zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens, dann ist es dunkel und die Hühner können nicht sehen, daß du sie fangen willst.“ Die im Käfig erworbenen Grundlagen hat er kontinuierlich verbessert. „Meine
Beine sind jetzt schön stark und schnell, ich kann hoch springen und dadurch wird mein Aufschlag besser.“ Was für eine Karriere: Vom Hühnerstall auf den Centre Court!... Wenn er in Zukunft nach dem Schläger greift, werden in Taiwan sämtliche TV-Geräte flimmern. Wo sonst nur Baseballspieler Sportstars sind, heißt das Idol nun Lu. Natürlich hat auch Staatspräsident Ma Ying-Jeou sofort ein Glückwunschtelegramm geschickt. Keine SMS. Denn Yen-Hsun Lu hat noch kein Handy.
Gunther Beth