"Pio" Bartali: Der Heilige auf dem Rennrad

Geschichtsträchtiger könnte es kaum sein. Der Giro d`Italia startet an diesem Freitag in Jerusalem. Das ist auch eine Hommage an Gino Bartali, Italiens Radsportlegende, und dessen größten Sieg - jenen über die Unmenschlichkeit.
von  Stephan Kabosch
Eine Ikone der Sportfotografie: Gino Bartali (l.) und Fausto Coppi beim Überreichen einer Wasserflasche.
Eine Ikone der Sportfotografie: Gino Bartali (l.) und Fausto Coppi beim Überreichen einer Wasserflasche.

Geschichtsträchtiger könnte es kaum sein. Der 101. Giro d'Italia startet an diesem Freitag in Jerusalem. Das ist auch eine Hommage an Gino Bartali, Italiens Radsportlegende, und dessen größten Sieg - jenen über die Unmenschlichkeit.

Jerusalem, Rom - "Gutes tut man und redet nicht darüber." - Diesen Satz gab Gino Bartali seinem Sohn Andrea mit. In einem Interview mit La Repubblica vor einigen Jahren erzählte der 2017 verstorbene Andrea auch, dass sein Vater ihm erst Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg von seiner Heldentat berichtet habe. Darüber, dass er 800 Juden das Leben gerettet hat. "Mein Vater wollte wegen seiner sportlichen Erfolge in Erinnerung bleiben, er wollte kein Kriegsheld sein", sagte Andrea Bartali.

Heute ist die Geschichte des Radsportlers nicht ohne die des Menschen Gino Bartali denkbar. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hat ihn 2013 posthum zu einem "Gerechten unter den Völkern" ernannt. So werden Nichtjuden ausgezeichnet, die sich gegen das Nazi-Regime auflehnten und jüdische Mitmenschen vor Verfolgung, Deportation und dem Tod in den Vernichtungslagern schützten. So wie Oskar Schindler. Und eben auch Gino Bartali. Ihm zu Ehren passiert der Giro-Tross am Freitag Yad Vashem.

Gino Bartali: Vor dem Radrennen eine Zigarette

Bartali, der einfache Bauernsohn aus der katholisch geprägten Toskana, wusste zu leben. Er trank gerne ein Glas Wein. Selbst vor Rennen zündete er sich eine Zigarette an, um "den Kreislauf auf Touren zu bringen", wie er zugab. Aber über allem stand seine tiefe Gläubigkeit, die ihm den Beinamen "Il Pio" einbrachte, der Fromme. Gino Bartali praktizierte das Christentum, er lebte es vor. Und er zögerte nicht, als ihn der Erzbischof von Florenz, Kardinal Elia Angelo Dalla Costa, um Teilnahme an einem christlich-jüdischen Hilfswerk bat. Es waren die Jahre 1943 bis 1945. Die deutsche Wehrmacht hielt den Norden Italiens besetzt. Juden wurden systematisch verfolgt und deportiert. Das Netzwerk, angeführt von Kardinal Dalla Costa, verschaffte den Juden durch gefälschte Dokumente eine neue Identität als Christen, um sie so vor dem Tod in den Vernichtungslagern zu schützen.

Bartalis Rolle dabei war die eines Fahrradkuriers. Gino hatte bereits den Giro d'Italia und die Tour de France gewonnen und genoss im radsportbegeisterten Italien Heldenstatus - und Privilegien. Bartali durfte trainieren. So tarnte er seine Kurierdienste, bei denen er Passfotos und Dokumente beförderte, als Trainingsfahrten. Hundert, manchmal sogar 200 und mehr Kilometer am Tag legte Bartali dabei zurück zwischen Florenz und Assisi, Genua und Rom. Dabei musste er Kontrollposten passieren. Um nicht aufzufliegen, versteckte Bartali die Dokumente im Stahlrohr seines Rennrads. Einmal wollte es ein Scherge genau wissen und wies Bartali an, die Sattelstütze aus dem Rohr zu ziehen, um ins Innere des Rahmens blicken zu können. Doch Bartali erklärte dem Posten, dass es Stunden dauern würde, um das Sportgerät wieder zu justieren. Er durfte weiterfahren. Mehrmals wurde Bartali beschossen, einmal landete er im Straßengraben. Nicht einmal seine Familie weihte er in seine lebensgefährliche Tätigkeit ein.

Das Duell Coppi gegen Bartali spaltete Italien

Und auch später, nach dem Krieg, wollte Bartali lange Zeit nicht darüber sprechen. Als die Welt dennoch vom Heldenmut Gino Bartalis erfuhr, kommentierte er dies in der ihm typischen Bescheidenheit so: "Ich habe halt das getan, was ich am besten kann: radfahren."

Das tat Bartali auch nach 1945 wieder, gewann noch einmal die großen Landesrundfahrten Giro und Tour de France. Das Duell mit dem jungen, ungestümen Fausto Coppi spaltete die Radsportnation in "Bartalisti" und Coppisti". Dabei kamen die beiden eigentlich ganz gut miteinander aus. Dies sollte auch ein Foto von der Tour de France 1952 belegen. Darauf ist zu sehen, wie sich die beiden während der Abfahrt vom Galibier eine Wasserflasche reichen. Später stellte sich heraus, dass das Bild gestellt war, einen Tag vor der Etappe aufgenommen wurde. Es blieb dennoch eine Ikone der Sportfotografie.

Eine Ikone der Sportfotografie: Gino Bartali (l.) und Fausto Coppi beim Überreichen einer Wasserflasche.
Eine Ikone der Sportfotografie: Gino Bartali (l.) und Fausto Coppi beim Überreichen einer Wasserflasche.
Gino Bartali (l.) und Fausto Coppi beim Überreichen einer Wasserflasche während der Tour de France 1952. Foto: dpa

1953 beendete Gino Bartali seine in doppelter Hinsicht einzigartige Karriere. Der Krieg hatte ihn seiner besten Jahre als Radsportler beraubt. Aber den größten Sieg hatte der Heilige auf dem Rennrad da schon eingefahren. Den Triumph über die Unmenschlichkeit, den Sieg des Lebens über die Tötungsmaschinerie. Dabei passte es zu Gino Bartali, dass er einmal zu seiner Enkelin Gioia sagte: "Gewisse Medaillen heftet man sich nicht an die Jacke, sondern an die Seele."

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