Pechstein und das Rätsel namens Claudia

HAMAR - Schafft die Eisschnellläuferin in Hamar das historische Double? Die 37-Jährige, die bei der EM triumphal zurückkehrte, weiß nach überstandenem Infekt selber nicht, wo sie steht.
Claudia Pechstein steht in ihrer zweiten Heimat vor einer Reise ins Ungewisse. Vier Wochen nach dem EM-Triumph von Heerenveen nimmt die fast 37 Jahre alte Berlinerin bei der 70. Mehrkampf-WM auf ihrer Lieblings- und Trainingsbahn in Hamar das Double in Angriff – doch sie steht dabei gleich vor mehreren Rätseln. Ihre eigene Form kann sie nach überstandenem Infekt nur schwer einschätzen, und auch ihre Konkurrentinnen ließen zuletzt jede Konstanz in den Leistungen vermissen.
„Claudia wird erst nach zwei Strecken wissen, wo sie steht, und das gilt auch für die anderen. Das wird schon spannend“, sagte der deutsche Teamchef Helge Jasch vor dem klassischen Vierkampf (500, 3000, 1500, 5000 m) auf der Olympiabahn von 1994. Allein die Absage von Vize-Europameisterin Daniela Anschütz-Thoms, die sich am Mittwoch krank abgemeldet hatte, hat laut Jasch die Karten völlig neu gemischt: „Ich glaube, Schützi wäre diesmal an der Reihe gewesen. Auf jeden Fall kostet uns ihr Ausfall eine Medaille.“
Pechstein registrierte die Absage ihrer Konkurrentin mit einem Schulterzucken. „Ich konzentriere mich nur auf mich selbst“, sagte die Berlinerin. Sie könnte in Hamar als erste Läuferin seit Anni Friesinger 2005 und als insgesamt siebte unmittelbar nach dem EM- auch den WM-Titel der Allrounder holen.
Ihr mäßiger Auftritt am vergangenen Wochenende beim Weltcup in Erfurt (Plätze 6 und 7) habe sie nicht überrascht. „Wenn man krank war und eine ganze Woche nicht trainieren konnte, dann kann man auch keine Spitzenleistungen abrufen. Ich weiß noch nicht, ob ich jetzt schon ganz nach vorne laufen kann. Da muss ich mich überraschen lassen“, sagte Pechstein. Ihre Zielsetzung ist wie vor fast jedem großen Wettkampf in den vergangenen Jahren „ein Platz auf dem Treppchen“.
Der Formkrise einiger ihrer Konkurrentinnen steht sie skeptisch gegenüber. Vor allem der Kanadierin Kristina Groves („Sie hat in Erfurt nicht ihr wahres Potenzial gezeigt“) und der Niederländerin Ireen Wüst („Sie hat sich stark verbessert gezeigt“) traut sie nicht über den Weg. In der tschechischen 3000- und 5000-m-Weltrekordlerin Martina Sablikova, die für viele nach der Absage von Anschütz-Thoms erste Anwärterin auf Gold ist, sieht Pechstein „wie immer eine Aspirantin“.
1994 war Pechsteins Stern in der Stadt 100 km nördlich von Oslo aufgegangen, als sie über 5000 m sensationell Olympiagold vor Gunda Niemann-Stirnemann holte. Zwei Jahre später gewann sie über diese Strecke in Hamar den ersten von bislang sechs WM-Titeln. Kein Wunder, dass sie das Wikingerschiff als „Lieblingshalle und mein zweites Zuhause“ bezeichnet. Im Mehrkampf schaffte sie allerdings erst einmal (2000 in Milwaukee) den Sprung nach ganz oben. In Hamar steht ihr der 17. Allround-Start bevor, bereits achtmal belegte sie Rang zwei. Solche Platzierungen sind für das deutsche Männerduo außer Reichweite. Für den Erfurter Robert Lehmann und den Berliner Tobias Schneider wäre das Erreichen des Finals der besten zwölf Läufer über 10.000 m schon ein Erfolg. Eine Wiederholung des Ergebnisses von Heerenveen, als Lehmann Sechster und Schneider Achter geworden sind, wäre für Jasch „traumhaft“. Bei den Frauen wäre für WM-Debütantin Stephanie Beckert (Erfurt) und Team-Olympiasiegerin Lucille Opitz (Berlin) ein Platz unter den Top 10 ein großer Erfolg. Für Anschütz-Ersatz Isabell Ost (Berlin) heißt es in Hamar „dabei sein ist alles“.