Paavo Nurmi: Der fliegende Finne

Paavo Nurmi wurde an einem Sonntag, dem 13. Juni 1897, geboren, doch ein Sonntagskind war die finnische Lauflegende trotz all seiner Erfolge, trotz neun olympischer Goldmedaillen und 24 aufgestellter Weltrekorde, nicht. "Er war kein glücklicher Mensch", resümierte Finnlands Staatspräsident Urho Kaleva Kekkonen in seinem Nachruf, als Nurmi 1973 starb und mit einem Staatsbegräbnis zu Grabe getragen wurde.
Vor allem sein Lebensabend wurde von Depressionen und gesundheitlichen Problemen geprägt, Nurmi erblindete beinahe, erlitt mehrere Herzinfarkte und war halbseitig gelähmt. "Meine Bilanz ist nüchtern und ehrlich: Ich habe in meinem Leben nichts geleistet", sagte er einmal verbittert in seinen letzten Jahren, als er den Wert seiner sportlichen Karriere in Frage stellte. "Nur wirkliche Arbeit, Wissenschaft und Kunst haben einen Wert."
Dabei lag ihm doch die ganze finnische Nation, ja die ganze Sport-Welt gerade wegen seiner herausragenden Leistungen zu Füßen.
Seine Kindheit war geprägt von Armut und harter Arbeit
Vielleicht hatten Nurmis Schwermütigkeit, seine Schweigsamkeit und Menschenscheu ihre Wurzeln in seiner Kindheit, die geprägt war von Armut und harter Arbeit. Er wurde als zweites Kind des Kleinbauern und späteren Schreiners Johan Frederik Nurmi und seiner Frau Matilda Vilhelmina in der südfinnischen Hafenstadt Turku geboren. Zwei seiner fünf Geschwister starben bereits im Kleinkindalter. Der kleine Paavo musste schon als Kind zum Unterhalt der Familie beitragen, zumal der Vater 1910 im Alter von 49 Jahren starb. Er hackte Holz, schleppte Wasser, lieferte Backwaren aus und half der Mutter im Haushalt.
Wahrscheinlich stürzte er sich gerade wegen der Kargheit seiner Jugend mit umso größerer Leidenschaft, Verbissenheit und Disziplin ins Laufen, einen Sport, in dem er offensichtlich großes Talent hatte. "Wir begannen mit einem extrem harten Trainingsprogramm", sagte Nurmi rückblickend über die Zeit, als er in den Hinterhöfen und Wäldern mit den Nachbarskindern trainierte.
Als Elfjähriger lief er die 1.500 Meter in 5:02 Minuten, und als sein Landsmann Hannes Kolehmainen 1912 in Stockholm dreimal Gold und einmal Silber über die Langstrecken holte, beschloss er, in dessen Fußstapfen zu treten und kaufte sich sein erstes Paar Laufschuhe.
Bei den Olympischen Spielen 1920 in Antwerpen schaffte er mit dreimal Gold den Durchbruch, doch der Höhepunkt seiner Laufbahn sollten die Spiele 1924 in Paris werden. Sie begründeten seinen Ruf als der wohl größte Läufer aller Zeiten.
Nurmi strebte nach Gold auf allen Mittel- und Langstrecken, doch der Zeitplan wollte es so, dass vier dieser Wettbewerbe innerhalb von nur vier Tagen stattfanden, der 1.500- und 5.000-Meter-Lauf sogar im Abstand von nur zwei Stunden am selben Tag. Der nur 65 Kilo schwere Athlet hatte diese Belastung getestet – und lief bei einem Wettbewerb drei Wochen zuvor in Helsinki innerhalb einer Stunde (!) Weltrekord über beide Strecken.
Und dann also diese legendären Juli-Tage in Paris, eine drückende Hitze liegt über der Stadt. Im Finale über 1.500 Meter beschleunigt der Finne atemberaubend, setzt sich weit von der Konkurrenz ab. Gold! Die letzten 300 Meter lässt er austrudeln und schont sich für den 5.000er. Dort liefert sich Nurmi einen packenden Zweikampf mit seinem Landsmann Ville Ritola, den Sieger über 10.000 Meter und im Hindernislauf, den er im Schlusssprint bezwingt. Doppelgold!
Die Hitzeschlacht von Colombes: 45 Grad in der Sonne
Seinen Triumph perfekt macht er zwei Tage später bei der legendären Hitzeschlacht von Colombes, im Crosslauf über 10,65 Kilometer. 45 Grad zeigt das Thermometer in der Sonne am Ufer der Seine, von 38 gestarteten Läufern kommen nur 15 ins Ziel, einige kollabieren. Nur Nurmi funktioniert wie ein Uhrwerk und siegt mit eineinhalb Minuten Vorsprung erneut vor Ritola. Zusammen mit den Siegen in den Teamwettbewerben (Crosslauf und 3.000 Meter) ist der historische Fünferpack innerhalb von vier Tagen perfekt, Nurmi wird zum fliegenden Finnen.
Das Erfolgsgeheimnis des insgesamt neunmaligen Olympiasiegers, der damit auf Platz drei der erfolgreichsten Sommer-Olympioniken aller Zeiten steht? Sein einzigartiges Tempogefühl, sein "mathematischer Gebrauch von Zeit", wie es der spätere IOC-Präsident Avery Brundage ausdrückte. Nurmi lief im Training und im Wettkampf stets mit einer Stoppuhr in der Hand, er konnte so die Wirkung des Tempos auf seinen Körper bis ins Detail kontrollieren.
"Wenn du gegen die Zeit läufst, brauchst du nicht zu sprinten", sagte er. "Die anderen können nicht mithalten, wenn das Tempo konstant schnell bis ins Ziel ist." Nurmi, der als einer der ersten Athleten seiner Zeit die Bedeutung systematischen Trainings erkannte und dessen Terrassentraining als Vorläufer des heutigen Intervalltrainings gilt, achtete zudem streng auf Laufökonomie und einen effizienten Laufstil.
Mit diesen Methoden war er der Konkurrenz voraus und wer weiß, wie viele Medaillen er nach Gold über 10.000 Meter 1928 noch geholt hätte, wäre er nicht vor den Olympischen Spielen 1932, als er im Marathon antreten wollte, vom IOC gesperrt worden. Nurmi wurde der Amateurstatus, damals eine dringende Voraussetzung zur Teilnahme an den Spielen, aberkannt, weil er zu viel Geld für die Erstattung seiner Reisekosten angenommen hatte.
Ein angebliches Komplott und die späte Rehabilitierung
Der schweigsame Finne witterte ein Komplott schwedischer Funktionäre, was zu seiner persönlichen Verbitterung im Alter erheblich beitrug.
Am 19. Juli 1952 erlebte er aber einen seiner glücklichsten Tage: Als Fackelträger durfte er das Olympische Feuer ins Stadion von Helsinki bringen. Es war eine Art stillschweigende Rehabilitierung für den größten aller Läufer, der sich der Huldigung durch seine Landsleute gewiss sein durfte. Sein Fünferpack in der Hitze von Paris ist bis heute eines der Glanzlichter der Olympischen Geschichte.
Am Freitag hätten die Olympischen Spiele mit der Eröffnungsfeier in Tokio begonnen, die nun ins kommende Jahr verschoben wurden. Aus diesem Anlass präsentiert die AZ täglich eine Serie mit den größten Momenten der Olympischen Sommerspiele – von 1896 bis in die Gegenwart.
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