Olympia-Historie 1964: Ein Dressurpferd ist kein Ackergaul
Auf meinem Nachttisch liegt ein Zettel. "Hartmut, go to the dressage. Paddy". Der europäische Sportchef der amerikanischen Nachrichtenagentur United Press International (UPI), Henry Thornberry, hat mich unvermittelt fürs Dressurreiten eingeteilt. Diese Disziplin ist eine Domäne der Deutschen. Harry Boldt auf "Remus", Reiner Klimke auf "Dux" und Josef Neckermann, der Gewinner der Bronze-Medaille von Rom, auf "Antoinette" haben sich im Mannschaftswettbewerb mit Gold geschmückt, vor der Schweiz und der Sowjetunion. Das Trio steht nun auch im Einzelfinale der besten Sechs.

"Shit", fluche ich. Es ist freitagmorgens gegen fünf Uhr. Mit meinem Freund und dpa-Kollegen Walter Schweden habe ich im "Golden Akasaka" die Nacht durchgemacht. Ist also nix mit Ausschlafen bis zum Boxfinale am vorletzten Wettkampftag. Stattdessen stehe ich im Reiter-Park buchstäblich und sprichwörtlich im Regen. Das Einzige, was ich von dieser hippologischen Disziplin weiß: Ein Dressurpferd ist kein Ackergaul. Unter einem Baum als Regenschutz lasse ich Ahnungsloser mir vom SID-Experten Ulrich Kaiser die Bewegungsabläufe von Ross und Reiter erklären.
Was nur ist eine Piaffe?
Zwar wurden in Tokio die Ergebnisse bereits zum Teil elektronisch schnell übermittelt. Doch Uli und ich müssen als Agentur-Reporter über zwei Stunden im Nassen warten, bis der Schweizer Armee-Adjutant Henri Chammartin auf "Woermann" in einer nahezu menschenleeren, von Blumen umrahmten Arena, endlich zum Olympiasieger erklärt wird.
So lange hat das Studium der Filmaufnahmen gedauert, ehe die Jury sich zum knappsten aller Ergebnisse entscheidet: 1.504 Punkte für Chammartin, 1.503 für Harry Boldt.
Der Russe Sergej Filatow auf "Absent", Olympiasieger 1960, wird Dritter, Josef Neckermann, der 52-jährige Frankfurter Warenhaus-Unternehmer ("Neckermann macht's möglich"), wird Fünfter, Reiner Klimke Sechster.
In Rom dauerte die Entscheidung übrigens noch bis zum nächsten Tag.
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