Olympia-Geschichten: Münchens Cinderella Nasse-Meyfarth

Dieses Leuchten in den Augen, wenn sie von ihrem großen Triumph erzählen soll, das sucht man bei Ulrike Nasse-Meyfarth vergeblich. Viel zu oft schon musste sie beschreiben, wie sie damals mit gerade mal 16 Jahren die jüngste Leichtathletik-Olympiasiegerin in einem Einzelwettbewerb wurde.
Über den Erfolg redet Ulrike Nasse-Meyfarth nicht mehr gerne
Das ist sie sogar heute noch, aber darüber reden mag sie nicht besonders gern. Als der Deutsche Olympische Sportbund unlängst zum Jubiläumsempfang in den Olympiapark geladen hatte, saß Meyfarth auf dem Podium und meinte auf die Frage, wie das denn gewesen sei, als 16-Jährige Olympiasiegerin zu werden: "Ich durfte Erfahrung sammeln und habe das Beste daraus gemacht."

Das junge Mädchen mit Startnummer 168 ist heute 66 Jahre alt und mit 1,88m so groß wie nicht viele im Raum. Groß ist auch die Aufgabe für den Moderator der Veranstaltung, ein paar schöne Sätze aus dieser Frau herauszubekommen, deren Name mit den Spielen von 1972 so eng verbunden ist wie sonst nur der von Klaus Wolfermann und Heide Rosendahl.
Stocknüchtern statt schwärmerisch
Wie es vor dem Anlauf zum Gold-Sprung in ihrem Kopf ausgehen habe, will der Frager wissen, und die Hochspringerin antwortet nur: "Möglichst leer, möglichst wenig drin, aber das Wichtigste."
Vom Tunnelblick spricht sie, erzählt, dass sie sich vor den Sprüngen unter die Latte stellte, um die noch nie zuvor übersprungenen Höhen zu visualisieren: "Das hat geholfen", sagt sie. Wie kann man bloß so stocknüchtern über einen solchen Sensationserfolg reden? Wo bleiben die Gefühle, der Jubel, die Tränen, die Ekstase?
Ein ikonografischer Moment
Der Moderator gibt nicht auf: Auf dem Foto sehe es aus, als jubele sie schon, bevor sie komplett über die Latte sei, fragt er. Nasse-Meyfarth meint nur: "Kann sein. Ich habe keine Erinnerung an diesen Flug." Viele Sport-Fans schon.
Meyfarths Sprung über 1,92 Meter ist einer der ikonografischen Momente der Spiele von 1972. Was für eine Cinderella-Story! Junges Mädel düpiert die Weltspitze. Springt als eine von wenigen diesen neumodischen Fosbury-Flop, nicht den guten, alten Straddle. Verbessert ihre Bestleistung um sieben Zentimeter. Stellt auch noch den Weltrekord ein.
Nach dem Gipfel ging es erstmal bergab
Alles war so leicht - so leicht, wie später nie wieder etwas in ihrem Leben sein würde. Denn nach dem Gipfel ging es erstmal bergab, und zwar steil. Olympia 1976: nicht qualifiziert. EM 1974 und 1978: Platz sieben und Platz fünf.
Olympia 1980: wurde boykottiert. Erst 1982 ging es wieder aufwärts: EM-Gold mit Weltrekord: 2,02 Meter. Im Jahr darauf: noch ein Zentimeter höher. Und 1984 ihr größter Triumph: wieder Olympia-Gold, in Los Angeles, zwölf Jahre nach München.
Eine gewaltige Genugtuung
Nun war sie zugleich die jüngste und die älteste Hochsprung-Olympiasiegerin in der Geschichte der Olympischen Spiele. Es muss eine gewaltige Genugtuung gegenüber ihren Kritikern gewesen sein. Und es war eine Goldmedaille, die ihr nicht wie 1972 überraschend in den Schoß gefallen sei, sondern eine, für die sie lange und hart gearbeitet hatte.

Nasse-Meyfarth wird immer nur nach München gefragt
Doch nach Los Angeles fragt sie auch heute kaum jemand. Es geht immer nur um München. "Das hat mein Leben geprägt", sagt sie. Welche Gefühle aufkommen, wenn sie rüber ins Stadion schaut (in dem sie zehn Jahre nach der Goldmedaille bei deutschen Meisterschaften die Zwei-Meter-Marke knackte), will der tapfere Moderator wissen und beißt natürlich auf Granit: "Da brauche ich gar nicht rüber zu schauen. Die Erinnerungen sind immer noch da. Ich werde diesen ganzen Sommer über darauf zurückgeworfen. Ich habe so viele Anfragen für Interviews: Das ist schon unheimlich, dieses Jubiläum."
Nach Olympia wieder auf die Schulbank
Und dann blitzt doch wieder der Humor aus dem Rheinland auf, wo die gebürtige Frankfurterin schon lange lebt: "Nächstes Jahr gerate ich dann völlig in Vergessenheit, dann ist Schluss." Wer sie später doch noch mal anspricht, dem erzählt sie durch die FFP2-Maske von ihrem schlimmsten Erlebnis in diesem so speziellen Jahr vor einem halben Jahrhundert.
Den größten Albtraum habe sie nach den Spielen erlebt: "Da musste ich wieder in die Schule: vier Wochen Unterricht nachholen. Das war tragisch, traumatisch. Aber da will ich gar nicht mehr drüber reden."