Olympia 1936: Als Jesse Owens Adolf Hitler vorführte
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hatte es sich so oft, so lebhaft ausgemalt und so akribisch geplant. Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin als perfekte, als perfide Bühne, um den olympischen Gedanken des friedlichen Wettkampfes der Athleten über Krisen und Kriege hinweg zu pervertieren und letztlich die Überlegenheit der Arier, der vermeintlichen Herrenrasse, der Weltöffentlichkeit zu offenbaren.
Dafür hatte er einen irrwitzigen Betrag in die Inszenierung investiert, die Spiele waren die ersten, von denen es Livebilder geben sollte, damit die Welt in Ehrfurcht und Furcht erstarrter Zeuge dieser Dominanz sei. Dafür brauchte es nur Siege, Siege, Siege, die mit "Sieg Heil"-Sprechchören unter den Blicken des Führers Adolf Hitler in die Welt getragen würden.
Propaganda im Deckmantel des sportlichen Wettkampfes, der Wolf im Schafsgewand des Sport-Trikots. Doch wie bei allen Inszenierungen, so durchgeplant sie auch sein mögen, die große Unbekannte ist – und bleibt – der Faktor Mensch.
Goebbels hatte die Rechnung ohne einen Menschen gemacht, der als vermeintlicher Untermensch zum Übermensch der Spiele in Berlin wurde: Jesse Owens! Ein schwarzer Athlet, einer der 18 US-Teilnehmer, der Enkel eines Sklaven. Dieser 22-Jährige avancierte zum Helden der Spiele, zum Helden der Berliner, der Deutschen.

Die Owens-Triumphe: Super-Gau für Goebbels
Es war der propagandistische Super-Gau für Goebbels. Er und die anderen Nazi-Granden waren nicht nur dazu verdammt, mitanzusehen, wie dieser Jesse Owens mit seinen 22 Jahren die ganzen blonden, blauäugigen deutschen Sportler zu Statisten degradierte, nein, sie mussten auch noch mitansehen und -anhören, wie die Massen diesem Schwarzen, der für alle abfällig nur "der Neger" war, zujubelten.
Vier Mal trat Owens bei den Propaganda-Spielen, die am 1. August eröffnet wurden, an – vier Mal holte er sich Gold. Am 3. August düpierte er die Konkurrenz im 100-Meter-Lauf, am 4. August krönte er sich zum König der Weitspringer, tags drauf holte er Gold über die 200 Meter und am 9. August konnte es auch in der 4 x 100-m-Staffel nur einen geben: Owens.
Ein einzelner Mensch führte mit seiner Athletik, Eleganz, seinen großartigen Genen die Rassenlehre der Nazis ad absurdum. Eine Ohrfeige für alle Herrenrassen-Gläubigen.
Jesse Owens und die Ovationen der Berliner
"Vielleicht war die wichtigere Leistung die Tatsache, dass er durch seine persönliche Exzellenz bewiesen hat, dass die Lehre von der Überlegenheit einer Rasse, der von Hitler propagierten arischen Rasse, falsch und gegen die Natur ist", sagte seine jüngste Tochter Marlene Owens-Rankin 2009 anlässlich der Leichtathletik-WM in Berlin der AZ in einem Exklusiv-Interview: "Diese Ovationen der Berliner damals haben meinen Vater in seinem Innersten berührt. Er war dafür sein Leben lang dankbar."
Der Legende nach verweigerte Hitler Owens nach dessen Triumphen den Handschlag, er sei wutentbrannt aus dem Stadion gestürmt – doch diese Geschichte ist genau dies – eine Legende. Hitler hatte nur am ersten Tag der Spiele den deutschen Siegern die Hand geschüttelt.
Aufgrund des Neutralitätsgedankens des IOC wies Präsident Henri de Baillet-Latour Hitler daraufhin, dass er entweder allen Siegern gratulieren müsse – oder er es bei keinem dürfe. Hitler entschied sich dafür, keine Siegerhände mehr zu schütteln – und so natürlich auch nicht die von Owens. "Wir wurden unterhalb der Ehrenloge lang geführt, ich winkte und Hitler antwortete mir mit dem Nazigruß im Sitzen", erzählte Owens später.
Er erzählte leider nur in seinem Leben einige unterschiedliche Versionen. Die Überlegenheit von Owens über die Herrenrasse war eine der Geschichten dieser Spiele. Die andere war die Story einer großen Freundschaft zweier Männer, die sich in ihrem Leben nur einen Tag begegnet sind, deren Freundschaft aber sogar den Tod überdauerte und zwei Familien verband. Keine Ländergrenzen, keine Rassenfragen, keine Ideologien konnten sie aufhalten.

Olympische Verbrüderung: Luz Long und Jesse Owens
Die Rede ist von Owens und dem deutschen Weitspringer Luz Long. Owens hatte in der Qualifikation Probleme. Zwei Mal übertrat er, ein weiterer Fehltritt, und seine Goldmission wäre vor dem Finale gescheitert. Long hatte sich mühelos qualifiziert, Owens haderte mit sich. "Ich dachte, wenn der gewinnt, würde das der Theorie der Nazis von der Überlegenheit der Arier neuen Schwung geben. Denn ich bin ja ein Neger", sagte Owens 1960 im "Readers Digest".
Als Owens so grübelte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Longs Hand. Der Deutsche, der vermeintliche Herrenmensch, gab dem Schwarzen, dem angeblichen Untermenschen, einen Tipp. Er sollte sich eine Stelle vor dem Absprungbalken markieren, da seine Sprungkraft so enorm sei, dass er da ruhig ein paar Zentimeter verschenken könne.
Gesagt, getan, gesprungen, qualifiziert. Im Finale segelte Long auf 7,87 Meter, Owens übertrumpfte ihn um 19 Zentimeter. Gold für den Amerikaner, Silber für den Deutschen. Danach umarmten sie sich. Das Bild, wie beide nebeneinander im Gras liegen und miteinander reden, ist einer der großen Momente dieser Spiele. Eine Verbrüderungsszene, die bei Führer-Stellvertreter Rudolf Heß einen Wutanfall auslöste.
Owens hat die Geste von Luz Long nie vergessen
Die Mutter von Luz Long schrieb in ihrem Tagebuch: "Luz erhielt von höchster Stelle (Heß) den Verweis, nie wieder einen Neger zu umarmen." Und Goebbels schrieb an diesem Datum in sein Tagebuch: "Das ist eine Schande. Die weiße Menschheit müsste sich schämen."
Owens selber hat diese Geste, die Hilfe von Long nie vergessen. "Obwohl Hitler nicht einmal 100 Meter entfernt saß und uns angestarrt hat, hat er mich umarmt. Selbst wenn man alle meine Medaillen und Pokale einschmelzen würde, könnten sie die 24-Karat-Freundschaft, die ich in diesem Moment für Luz empfand, kein bisschen goldener machen. Hitler muss wahnsinnig geworden sein, als wir uns umarmten."
Und Owens' Tochter Marlene sagte: "Unser Vater hat oft von diesem Moment gesprochen. Die Hilfestellung, die Lutz meinem Vater gegeben hat, war für ihn die Verkörperung der Tugend der Sportlichkeit in seiner reinsten Form."
Jesse Owens: Zur eigenen Siegesfeier durch den Hintereingang
Owens nahm später Kontakt zur Familie von Long auf, erst 1951 hatten dessen Angehörige Gewissheit, dass Luz 1943 in Sizilien im Krieg gefallen war. Owens machte die Witwe von Long ausfindig, und als er 1951 mit den Harlem Globetrotters in Deutschland war, nahm er Kai, den Sohn von Luz, mit aufs Spielfeld. "Es sei für ihn nun der schönste Augenblick, dass er wenigstens den Sohn seines langjährigen Freundes habe sehen dürfen. Er überreichte dem kleinen Long einen Basketball und versprach, immer an dem Schicksal des Sohnes seines Freundes wärmsten Anteil zu nehmen", schrieb die Presse damals.
Noch heute haben die Familien Kontakt. Erst die Väter, dann die Kinder, nun die Enkel. Owens war der Superstar der Spiele, doch kaum war er wieder daheim in den USA, war er nur noch ein Schwarzer. Einer, dem der Rassismus jeden Tag, fast jeden Schritt begegnete. Bei der Siegesfeier, die für ihn abgehalten wurde, durfte er das New Yorker Waldorf Astoria nicht durch den Vordereingang betreten. Ein Schwarzer hatte den Hintereingang zu benutzen.
US-Präsident Franklin D. Roosevelt lud ihn, anders als die weißen Olympia-Teilnehmer, nicht ins Weiße Haus ein. "Nicht Hitler hat mich gedemütigt, es war unser eigener Präsident", sagte Owens.
"Mein Vater fühlte sich übergangen, nicht gewürdigt. Er war enttäuscht, dass der erste Mann seines Vaterlandes es nicht für nötig empfand, ihn wahrzunehmen. Aber die Enttäuschung war nicht überwältigend. Als farbiger Mensch hatte man damals keine großen Erwartungshaltungen an die Mächtigen in diesem Land", sagte Marlen Owens-Rankin, "es hat ihn verletzt, aber er kannte es nicht anders. Und er hatte die vier Goldmedaillen, die ihm so viel bedeutet haben. Er sagte immer: Sie stehen für seine drei Töchter und seine Frau. Eine Goldene für jede von uns. Vier weibliche Goldmedaillen sozusagen."
Es ist die Legende von Jesse Owens, Adolf Hitler und den vier weiblichen Goldmedaillen.
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