"Nehmt, was ihr wollt!"
Der Niederländer Leon de Winter, Schriftsteller und Provokateur, rechnet mit der olympischen Idee gnadenlos ab. Hier lesen Sie, warum er die Freigabe von Doping fordert.
Von Thilo Komma-Pöllath
AZ: Herr de Winter, nach allem was man im Vorfeld von Olympia gelesen hat: Die brutale Unterdrückung der Aufstände in Tibet, der peinliche Fackellauf, die spekulierten Doping-Festspiele. Kann sich ein aufgeklärter Geist wie Sie noch auf die Spiele Freude?
LEON DE WINTER: Ich bin kein Priester. Ich bin genauso korrupt und verdorben. Also ja, ich Freude mich auf Peking wie ein kleines Kind. Ich will Teil dieser ganzen Erregung sein. Schon als Kind bin ich von morgens bis abends vor dem Fernseher gesessen, um mir das anzuschauen. Olympia hat mein verrücktes Sozialverhalten freigelegt. Seitdem weiß ich: Ich bin anfällig für solche extremen TV-Shows.
Können Sie erklären, warum Sport in unserer aufgeklärten Gesellschaft eine immer größere Faszination ausübt?
Sport spricht verschüttete Emotionen an, die wir unterdrücken müssen, um in unserer perfekt organisierten Gesellschaft überleben zu können. Der Grad der Konkurrenz erinnert uns an alte Stammesgefühle. So auch bei Olympia: Wir wollen zu dieser Gruppe gehören, wollen gewinnen. Um jeden Preis. Das ist ein ganz altes Stammesritual. Natürlich haben wir für diese Art von Gefühlen keinen Nutzen in unserer zivilisierten Gesellschaft, deshalb unterdrücken wir sie. Aber sie sind immer noch da und sie brauchen Platz. Deshalb gehen wir ins Stadion. Ich war ein Fan von Ajax Amsterdam, aber das große Geld hat alles zerstört.
Das große Geld ist aber nicht nur im Fußball, fast noch mehr hat es die Olympische Idee infiltriert und ausgehöhlt.
Die olympische Idee ist eine wundervolle, sehr humane Idee. Im selben Atemzug ist sie kompletter Schwachsinn. Du bringst eine Gruppe von Menschen zusammen auf der Basis nur einer Idee: den Gegner ausschalten. Anständige Menschen teilen einen Gedanken von innerer Schönheit? Blödsinn! Ich glaube nicht an dieses Blabla von wunderbaren Zielen, die die Menschen einander näher bringen. Ich denke, dass sich unsere Welt nur weiterentwickeln kann durch die Konfrontation von Fähigkeiten, Ideen, Träumen. Es geht nicht nur um die Faszination des Siegers, gerade wenn die Männer beim 100-Meter-Lauf ihre Siege zelebrieren, diese gewaltige Explosion von Machismo. Das alles kommt im Furor daher: Sei ein Mann! Brüll deinen Triumph heraus! Großartig! Genauso aber wie andere ihre Niederlage annehmen. Werden sie die Vormachtstellung des Siegers mit einem Handschlag akzeptieren? Das ist unglaubliches Theater, aber es hat nichts mit der Idee von Coubertin zu tun. Es geht um großartige Siege, um grauenhafte Niederlagen.
Sport ist also Kriegsersatz!
Natürlich! Eine polierte Form der Auseinandersetzung. Ich glaube überhaupt nicht daran, dass Sport die Menschen zusammenführen kann. Außer, dass sich bei Olympia die ganze Welt in ein einziges großes Publikum verwandelt. Das ist nicht schlecht, solange wir nur Fernsehschauen und uns nicht gegenseitig umbringen.
Sind Sie gar nicht verzweifelt, bei soviel Kommerz, Korruption und Totalitarismus bei den Spielen in Peking?
Und was machen sie als nächstes? Sie rufen mit ihrem I-Phone, das in China zusammengebaut wurde, ihre Freunde an und drücken ihren Ekel aus. Merken Sie endlich: Wir alle sind korrupt! Wir alle sind schuldig! Gegen diese Spiele zu opponieren und vor dem nächsten Apple-Store Schlange stehen, ist moralische Masturbation. Totale Heuchelei. Wir können den Einfluss dieses totalitären Regimes auf unser Leben nicht mehr leugnen. Einem kommunistischen Regime, dem es ungehindert erlaubt ist, Kapitalismus zu einer monströsen Idee aufzublähen. Das ist bizarr! Wir werden die aber nicht mehr los, das ist vorbei.
Das heißt: China hat das moralische Anrecht, diese Spiele auszutragen, in der Art, wie sie das jetzt auch tun.
Olympia hat nichts zu tun mit Moral, Demokratie oder Freiheit. Olympia ist big money. Wir selbst haben unseren „way of life" für einen höheren Standard korrumpiert. Jetzt China die Spiele wegnehmen zu wollen, wäre nur Politik der Symbolik. Die Heuchelei ist ein Teil unseres Lebens geworden. In dieser Hinsicht passt es, dass diese unglaubliche Gruppe von korrupten alten Leuten, die die olympische Bewegung führen, dass das IOC in einem rechtsstaatlichen Sinne überhaupt erlaubt ist. Das ist doch Wahnsinn.
Sie haben keine gute Meinung vom IOC, dem wichtigsten sportpolitischen Gremium der Welt?
Das ist eine geriatrische Veranstaltung. Das erinnert mich an große Unternehmen, die ihre Geschäftsführung nur aus Leuten rekrutiert, die sie kennen und mögen, egal was sie können. Unter Ihnen herrscht eine extreme Loyalität. Das ist in kriminellen Organisationen wie der Mafia ähnlich. Unser Kronprinz Willem ist auch Mitglied im IOC und manche sagen, da passt er auch hin, weil er war schon bei seiner Geburt ein alter Mann.
Trotzdem glauben Sie, dass Olympia China und seine politische Elite verändern kann?
In bestimmten Momenten haben wir ja schon gesehen, dass die chinesische Führung richtig in Panik geraten ist wegen Tibet. Sich bloßgestellt fühlen, wegen dem, was das Ausland über China denken könnte, ist ein neues Phänomen. Die investieren plötzlich unglaublich viel Energie und Geld, um der Außenwelt zu erklären wie China tickt und denkt. Der Wandel wird noch viele Jahre brauchen, aber es ist ein erstes Zeichen, um herauszufinden, wie die chinesische Führung ihre Rolle innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft interpretiert.
Was raten Sie den Sportlern, wie sie sich in Peking verhalten sollen? Erwarten Sie von einem aufgeklärten Athleten auch eine politische Meinung, die er äußern sollte?
Die Sportler sind dafür da, um ihren Sport zu zeigen. Die sollen nicht über Politik reden. Sportler sind keine Politiker in kurzen Hosen. Lasst sie laufen, springen, gegeneinander kämpfen, lasst sie das genießen. Ich will auch im Fernsehen nur Sport sehen. Das andere wissen wir alles. Das Erbe der chinesischen Führung ist wirklich hässlich. Aber alles verändert sich, selbst China. Die ganze Welt weiß, dass es da schreckliche Tragödien gegeben hat, aber wenn die Spiele starten, lasst sie uns gucken. Danach reden wir wieder über Tibet.
Lassen Sie uns über die Doping-Krise im Sport sprechen. Viele olympische Kernsportarten sind infiziert: Radfahren, Leichtathletik. Können Sie den Athleten überhaupt noch Glauben schenken?
Ich würde alle diese Begrenzungen aufheben. Sollen sie nehmen, was sie wollen, um zu gewinnen. Aber sie sollen es offen machen und nicht heimlich. Heute dopen sie sich und dazu nehmen sie Drogen, um ihren Betrug zu verschleiern. Die Verschleierung, die Unschuldsbeteuerungen sind der eigentliche Betrug. Meine Meinung: Nehmt was ihr wollt, aber steht dazu. Und das unter medizinischer Aufsicht. Ich habe gerade einen Wissenschaftsreport gelesen, über die Wirksamkeit von Stimulanzien. Ergebnis: Die meisten dieser Drogen wirken gar nicht. Alles Placebo-Effekte und mentale Hirngespinste.
Ist das, zu Ende gedacht, nicht ein grauenvoller Fatalismus?
Nein. Das ist die Realität. Die Sportler nehmen, was sie wollen. Dann stellen sie sich vor die Kameras und sagen: „Ich bin sauber, natürlich. Was denken Sie denn?" Was für eine lächerliche Schmierenkomödie.
Nelson Mandela hat den berühmten Satz gesagt: „Der Sport hat die Kraft die Welt zu verändern". Wahr oder einfach nur hoffnungslos naiv?
Für sich genommen ist die Botschaft lächerlich. Die Welt verändert sich nicht nur wegen des Sports. Es ändert sich jetzt vielleicht ein bisschen was in China wegen der weltweiten medialen Aufmerksamkeit, aber nicht wegen des Sports. Aber: Mandela ist großartig. Wir brauchen Menschen wie ihn, weil er die moralische Fallhöhe festlegt, weil er uns daran erinnert, wie die Welt sein sollte, auch wenn sie nicht so ist. Um die bestehenden Verhältnisse zu verändern, brauchen wir aber eine ganz andere Macht. Fragen Sie mich nicht welche, sie ist mir noch nicht begegnet.