Fernab der glitzernenden Welt des Profisports leisten Freizeitsportler oft Erstaunliches. Wie Karl Diem (75): Ein Portrait über einen Mann, der 52 Mal Gold holte – „das ist mein Leben“.
München - Es war ein guter Tag. Eiskalt und dennoch Sonnenschein. Karl Diem (75) war an diesem guten Tag Skifahren. Auf pickelharter Piste. Und vielleicht wäre sein Vater stolz gewesen, festzustellen, mit welcher Rasanz sein Dreivierteljahrhundert alter Senior-Junior da noch über die Hänge des Stümpflings zischte.
Vielleicht hat er es ja von oben gesehen. Und voller Respekt genickt. Wie wichtig die Anerkennung des Vaters ist und welche Antriebskraft die Nicht-Anerkennung zutage bringt – wir werden es im Verlaufe dieser kleinen Geschichte erfahren. Skifahren ist die große Winter-Liebe von Karl Diem. Der Münchner hat etliche Rennen gewonnen, früher. Wurde mehrmals Europäischer Banken-Meister. Und wenn er jetzt darüber spricht, glänzen seine Augen.
Doch dieses Glänzen scheint dennoch nur ein Klacks. Gegen das Leuchten, das seine Miene überzieht, wenn er vom kommenden April erzählt. Er kann ihn – Skispaß hin, Skispaß her – kaum noch erwarten. Jenen Monat, an dem endlich wieder das Training für das Sportabzeichen beginnt. Und er endlich wieder diese Gruppe der Gleichgesinnten trifft, diese Mit-Trainierer beim TSV Allach. „Das Sportabzeichen“, sagt er, „das ist mein Leben. Und das Gemeinschaftsgefühl, das ich dort erlebe ist das Schönste der Welt.“
Jetzt lächelt auch seine Frau. Das Deutsche Sportabzeichen ist ein Klassiker. 100 Jahre ist es heuer geworden, rund 33 Millionen Mal wurde es seit 1913 erworben, beispielsweise auch von Bundespräsident Horst Köhler. Eine Erfolgsgeschichte des deutschen Sports, exportiert in mehr als 70 Länder. Die Idee: In den Sportarten Leichtathletik, Schwimmen, Radfahren und Turnen einen Leistungsnachweis zu erbringen. Natürlich nicht in allen, sondern nur in jenen, in denen man sich zu Hause fühlt.
Wobei es zum hundertjährigen Jubiläum eine wohltuende Erfrischungskur setzte: Die Anforderungen wurden den modernen sportwissenschaftlichen Gegebenheiten angepasst – der Absolvent muss seit 2013 je eine Übung der vier Kriterien Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Koordination bewältigen. Wer in allen vieren reüssiert, erhält eine Auszeichnung in Bronze, Silber oder Gold. Dass ein 25-jähriger Youngster dabei andere Maßstäbe erfüllen muss als etwa ein 75jähriger Karl Diem, versteht sich von selbst. Es bestehen genaue Tabellen dafür (www.deutsches-sportabzeichen.de).
Diems Vater war ein berühmter Bergsteiger. So berühmt, dass sogar eine Berg-Passage im Wilden Kaiser nach ihm benannt wurde. Und wie Väter so sind, sollen die Söhne halt noch Größeres als sie selbst vollbringen. Doch Vater Diem – auch auf Umwegen nicht verwandt mit Carl Diem, dem 1913er-Erfinder des Deutschen Sportabzeichens – bemerkte bald, dass aus dem Sohn kein Alpen-Erstürmer werden würde. „Das war hart für ihn.“ Die Enttäuschung des Vaters saß tief. Und er ließ sie spüren. Zum Beispiel dergestalt, dass er den Buben nicht Fußball spielen ließ.
Da ihm dieser Sport suspekt erschien, „weil damals in vielen Vereinen nach einem Sieg immer ein Kasten Bier in die Kabine kam“. Natürlich wurde, später und fast heimlich, trotzdem ein Kicker aus dem jungen Kerl und zwar „der Beißhund im Mittelfeld des TSV Allach. Wenn die anderen mit einem Star kamen, dann war das mein Mann.“ Später, das war nach der Oberschule. In jener war er, mit 17, noch der Drittkleinste und Allerleichteste der Klasse gewesen, mit 1,67 Meter. „Ich konnte zwar springen – aber nicht Kugelstoßen.“ Dann rückte Karl Diem ein – 14 Zentimeter größer inzwischen –, besaß beim Militär die Möglichkeit, regelmäßig Kugelstoßen zu trainieren. Und absolvierte noch im Rahmen der Bundeswehr „mein erstes Sportabzeichen“. Das ihm wie eine Fügung erschien: „Für das Bergsteigen meines Vaters war ich nicht schwindelfrei genug. Für den ganz großen Sport war ich zu schmächtig. Aber mit dem Sportabzeichen – konnte ich mich beweisen!“
Das war 1961. Die Premiere. Der er seitdem 51 weitere Male hinzufügte. Jedes Jahr wieder – „bis auf 1968, da haben wir gebaut“. 52 Mal insgesamt: Damit ist er Münchens Sportabzeichen-König, zählt bundesweit zu den Bedeutendsten der Szene. Schließlich ist der Erwerb von Nadel und Urkunde nur ein Mal pro Jahr möglich. 52 Mal bedeutet: 52 Jahre fit und sportlich und leistungsfähig. Eigentlich müsste sein Vater platzen vor Stolz. Und vielleicht müsste der Leistung des Sohnes, wenn schon keine Berg-Scharte, so doch vielleicht ein besonderer Tag nachbenannt werden, etwa: „Der Karl Diem Trimm Dich- und Sportabzeichen-Tag des TSV Allach“.
Aber das hat noch Zeit. Bis zur Verleihung des 60. Sportabzeichens. Was nicht versäumt werden darf zu erwähnen: Karl Diem hat alle seine 52 Sportabzeichen – gewissermaßen die Olympiamedaillen des Freizeitsportlers – natürlich in Gold geschafft. Etliche der Urkunden sind, zwar maschinell, aber immerhin, von Dr. Thomas Bach unterzeichnet. Vor zwanzig Jahren ehrte ihn die Stadt München. Und zur 50. Absolvierung erschien ein großer Artikel in der Vereinszeitschrift. Jetzt also noch rund 130 Tage bis April. Bis das Sportabzeichen-Leben 2014 aufflammt.
„Es ist dann ein paar Monate lang eine wirklich tolle Zeit. Alleine die Kameradschaft! Und im September kommt dann wieder die finstere Zeit – es ist so schade, dass es dann wieder aufhört mit der Gemeinsamkeit...“ Er hat tatsächlich „finstere Zeit“ gesagt. Doch erst kommt einmal die helle. Ab April. Und immerhin kann Karl Diem bis dahin ja wenigstens skifahren. Aber was ist das schon, gegen einen Leistungsnachweis im Kugelstoßen. Für das Sportabzeichen. Das er 52 Mal öfter geschafft hat als sein Vater.