Michi Greis: "Fourcade war einer der Besten aller Zeiten"

Michael Greis (43) holte bei den Olympischen Spielen 2006 in Turin drei Mal Biathlon-Gold, zudem war er drei Mal Weltmeister. 2012 beendete er die Karriere, zur Zeit ist er Nationaltrainer der polnischen Frauenmannschaft.
AZ: Herr Greis, Martin Fourcade hat die Sportwelt mit seinem Rücktritt überrascht. Was sagen Sie, der dreimalige Olympiasieger über den Abschied des fünfmaligen Olympiasiegers?
MICHAEL GREIS: Ich muss zugeben, das hat mich selber überrascht – und zwar Vollgas. Ich war wegen der aktuellen Ereignisse rund um die Corona-Krise gerade im Internet, und dann sehe ich auf Twitter diese Mitteilung, in der er erklärt, dass "es eine schöne Reise" war. Ich konnte es erst nicht glauben, denn er ist ja erst 31 Jahre alt, er hätte sicher noch ein paar sehr gute und erfolgreiche Jahre haben können. Aber letztlich macht sein Entschluss dann doch Sinn.

Wieso?
Nun, er hat diesen Sport geprägt und einige Zeit auch beherrscht, wie nur wenige Athleten. Aber: Man muss auch sagen, in den letzten beiden Saisons war er nicht mehr der alleinige Dominator der Biathlonwelt, war nicht mehr der Dirigent, nach dem sich alle anderen zu richten haben. Und Fourcades Anspruch war es immer, der Allerbeste zu sein und nicht nur einer der Besten, der an einem guten Tag noch gewinnen kann, aber an einem nicht so guten auch geschlagen wird. Die Konkurrenz ist ja immer größer und besser geworden. Er wusste, dass er seinen Reifegrad erreicht hat, dass er nicht mehr besser werden kann. Und dann ist entscheidend, wie groß ist der innere Sättigungszustand. Ist der Kopf noch voll dabei? Bin ich bereit, all das mit der gleichen Motivation, dem gleichen Antrieb immer wieder neu anzugehen? Die Trainingsphasen und Vorbereitung sind ja im Biathlon sehr lang und man hat so wenige objektive Anhaltspunkte, wo man eigentlich steht. Daher ist das alles eine Kopfsache.
Michael Greis: "Fourcade war immer extrem ehrgeizig"
Zumindest ist der Biathlon-König der letzten Zeit standesgemäß abgetreten – mit einem Sieg beim Saisonfinale im finnischen Kontiolahti.
Das war ein Abgang mit Stil. Er kündigt das Ende an und dann zeigt er noch mal der ganzen Welt seine Extraklasse. Ich bin mir sicher, dass er das lange geplant und sich auch genau so erträumt hat. Für diesen Wettkampf war all die Motivation da, die man nur haben kann. Und Fourcade war immer extrem ehrgeizig, wenn er sich ein Ziel gesetzt hat, dann hat er es auch erreicht. Das war hier zu seinem Abschied nicht anders. Ich hätte ihm nur wirklich gewünscht, dass er in einem anderen Rahmen diese tolle Karriere beendet. Es war sehr schade, dass der Wettkampf wegen des Coronavirus vor leeren Rängen stattgefunden hat. Da hätte er sich was anderes verdient gehabt, keine Frage.
Sie haben danach noch direkt mit ihm gesprochen.
Das stimmt. Ich habe ihm alles Gute gewünscht für das Leben nach dem Sport und auch gefragt, ob er schon Pläne hat. Und? Er sagte mir: "Ganz offen? Ich habe noch keine Idee, ich will einfach mal das Leben auf mich zukommen lassen. Ich habe noch nichts Konkretes im Kopf." Er will sich auf jeden Fall für die Olympia-Bewerbung Paris 2024 engagieren, aber mehr weiß er noch nicht.
Michael Greis: "Du musst etwas Neues finden"
Wo würden Sie den Athleten Fourcade in der Geschichte des Biathlons einstufen?
Das ist immer sehr, sehr schwierig. Ist er der Größte aller Zeiten? Das ist wahrscheinlich Ole Einar Björndalen, aber auf jeden Fall hat Fourcade seine Zeit bestimmt und für mich steht außer Frage, dass er einer der Besten war, der je gelebt hat, einer der Besten – aller Zeiten. Und was bei ihm halt noch hinzukam: Er war ja nicht nur dieser herausragende Sportler, sondern eben auch ein echter Typ, ein echter Charakter. Einer, der gesagt hat, was er gedacht hat. Er war immer schwer in Ordnung.
Wie schwer war für Sie damals der Schritt aus dem Sportlerleben in die Karriere danach?
Das ist eine Herausforderung, die man nicht unterschätzen darf. Man gibt etwas auf, das man konnte, wie vielleicht nie wieder etwas anderes in seinem Leben, das eine Berufung war. Und du musst etwas Neues finden, dass dich ausfüllt. Und wenn man etwa ein Studium anfängt, und das braucht man ja heute fast bei allem, dann ist man einfach einige Jahre hintendran, da sind einem die anderen, mit denen man sich dann auf dem Arbeitsmarkt messen muss, ein Stück voraus. Wenn einer, der sein Leben lang immer Porsche gefahren ist, plötzlich auf das Rennrad umsteigt, dann ist das halt eine andere Welt.
Und es ist nicht selbstverständlich, dass er es je zur Tour de France schafft.
So schaut es aus. (lacht)

Nicht nur Fourcade ist abgetreten, sondern auch die finnische Biathlon-Ikone Kaisa Mäkäräinen.
Auch sie war eine Ausnahmeathletin, aber eben auch ein bisschen eine tragische Figur. Sie hatte eine tolle Karriere, aber die olympische Medaille blieb ihr dann doch immer verwehrt. Das ist schade. Aber es war ein toller Abschluss für sie. Ich habe meinen Damen...
Sie sind ja der Trainer der polnischen Frauenmannschaft.
Genau, ich habe ihnen gesagt: Schaut es genau an. Genießt es. Und: Genießt jeden Moment eurer eigenen Karriere, zieht aus diesen Bildern jetzt Motivation. Denn die Zeit ist so schnelllebig geworden, heute sind die beiden Helden, aber in der kommenden Saison, im neuen Winter sind sie Geschichte. Da wird kaum einer noch ein Wort über sie verlieren. Ihr müsst jetzt jede Chance nutzen, um maximalen Erfolg zu haben. Denn eine verpasste Chance ist eine, die nie wieder kommt.
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