Mehr Hirn als Herz

Bundestrainer Löws EM-Casting hat Nationalspieler und Fans in Atem gehalten. Das Resultat ist wenig spektakulär. Der Bundestrainer setzt auf bewährte Kräfte und schickt Jones, Marin und Helmes nach hause.
PALMA Zahnschmerzen sind Einzelschicksale. Die gesundheitlichen Probleme des Bundestrainers spielten am Mittwoch eine untergeordnete Rolle. Aber immerhin, kurz vor Ende der Pressekonferenz im Stadion Son Moix von Palma de Mallorca rief ein Reporter Löw noch hinterher: „Ach ja, wie geht’s den Zähnen? Sind die Schmerzen weg?“ Löw antwortete: „Nicht komplett weg. Aber ich bin auf dem Weg der Besserung.“
Zahnschmerz ist ein unangenehmer, ständiger Begleiter. Nicht auf Knopfdruck wegzubekommen. Sollte Löw dazu Bauchschmerzen gehabt haben in den letzten Tagen, dürften die nun weg sein, am Tag der Entscheidung. „Es gehört sicher nicht zu den Highlights einer Trainerkarriere, wenn man wie ich heute Vormittag Spielern mitteilen muss, dass sie nicht bei der EM dabei sind“, sagte Löw, „es war eine Millimeter-Entscheidung. Die Enttäuschung waren den Dreien schon anzumerken. Das spürt man dann auch.“
Doch Löw hat es so gewollt, dass er sich nun entschieden musste und nach sieben Trainingstagen und einem Testspiel, dem 2:2 am Dienstag gegen Weißrussland, die Spieler Jermaine Jones, Patrick Helmes und Marko Marin aus dem 26-Mann-Kader gestrichen hat. Ein Schnitt. Und ein schwerer Schritt. Löw als Überbringer der bösen Überraschung. Erst im Einzelgespräch, dann „wurden die Spieler im Hotel noch von der Gruppe verabschiedet“.
Eine Runde Trost, noch mal winken – und raus bist du, ab zum Flughafen. Jetzt sind sie weg. Fragen bleiben: Schafft man so unter den „Gewinnern“ tatsächlich ein noch größeres Zusammengehörigkeitsgefühl? Hat die Selektion tatsächlich Sinn gemacht?
Löw verteidigte seine Maßnahme auf Rückfrage vehement: „Wir von der sportlichen Leitung würden es wieder genau so machen. Auch wenn es sehr hart war, hat es sich bewährt.“
Doch die Wahl, zu der Löw nun gekommen ist, hätte er im Grunde auch schon vor Beginn der Vorbereitung treffen können. Es erwischte den Jüngsten: Marin (19), ein Länderspiel. Es traf einen der unangenehmen Typen: Jones (26), zwei Länderspiele. Und schließlich Helmes (24, fünf DFB-Einsätze), der nicht an Routinier Oliver Neuville (35) vorbeikam.
Neuville statt Helmes als Joker, Odonkor statt Marin als Außenbahndribbler, Rolfes statt Jones als Frings-Ersatz im defensiven Mittelfeld: An dieser Auswahl lässt sich Löws Hauptmotiv erkennen: das Sicherheitsdenken. Er vertraut den Spielern, die er von der WM 2006 kennt (Neuville, Odonkor) oder die schon seit über einem Jahr dabei sind (Rolfes, neun Länderspiele).
„Man hat gespürt, dass es für Marin das erste Länderspiel war“, begründete Löw die überraschende Personalie. Marin gehöre zwar die Zukunft. Aber: „Der Weg von der Zweiten Liga zu einem EM-Turnier war für ihn im Moment noch ein zu großer Sprung.“ Zu dieser Einsicht hätte man vor einer Woche auch schon kommen können.
Mutig kann man die Entscheidung also nicht nennen. Mutig wäre es gewesen, dem Mini-Scholl Marin mitzunehmen. Löw aber hörte auf seinen Verstand, nominierte mit Hirn statt Herz.
Er berief für die EM in Österreich und der Schweiz einen Kader, der zum Großteil aus dem WM-Kader besteht, der damals von ihm und dem damaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann zusammengestellt wurde. Die Löw-Neulinge sind: Clemens Fritz, Pjotr Trochowski, Heiko Westermann (der einzige, der 2008 sein Länderspiel-Debüt gab), Mario Gomez, Simon Rolfes, dazu der vor zwei Jahren kurzfristig ausgebootete Kevin Kuranyi. Nur bei der Wahl der Torhüter überraschte Löw schon vor zwei Wochen, als er Neuling René Adler statt Timo Hildebrand berief. Ansonsten scheute er das Risiko.
Einen Effekt hat Löw mit dem Mallorca-Casting erzielt. Reporter und Fans wurden durch das in Mode gekommene Auswahlverfahren nebenbei schön abgelenkt von den eigentlichen Problemen. Vom flatterhaften Lehmann, von der instabilen Abwehr, von einer Mannschaft, die nicht eingespielt ist.
Na dann: Gute Besserung.
Patrick Strasser