Marcel Kittel im Interview: "Dann müssen es jetzt die Jüngeren wuppen"
AZ-Interview mit Marcel Kittel Der jetzt 34-Jährige war zeitweise der beste Sprinter der Welt, allein bei der Tour de France gelangen ihm 14 Etappensiege, 2019 beendete er seine Karriere.
AZ: Australien und Rad-WM, da war doch was, Herr Kittel. Eine Medaille, die 2010 Ihre große Karriere erst möglich machte, oder?
MARCEL KITTEL: Ja, das war mein letzter Versuch, einen Profivertrag in Sack und Tüten zu bringen. Das hat geklappt, das war im U23-Zeitfahren, eine wichtige Bronzemedaille. Ich hatte ein unheimlich schlechtes Jahr. Dann stand ich an der Schwelle: Schaff' ich es zu meinem Traum oder nicht? Ich habe dann erst im späten Sommer den Weg zurück in die Spur gefunden und bei der WM noch das Ruder herumreißen können. Das war definitiv ein ganz wichtiger Moment für meine Profikarriere.
Hätte der Zeitfahrer Marcel Kittel 2010 vermutet, dass eine solche Sprinterrakete aus ihm wird?
Ehrlich gesagt: Nein. Ich bin bis einschließlich dieser WM immer in dem festen Glauben gewesen, dass ich zwar gut sprinten kann, aber dass ich vor allem ein guter Zeitfahrer bin. Das war auch der Fokus. Danach bin ich in den Winter gegangen mit meinem ersten Profiteam und habe dort zwar keine völlig neuen Seiten an mir kennengelernt, aber den Fokus verschoben, auch dank meines Trainers Merijn Zeeman. Das hat mir sehr, sehr gutgetan, wie sich herausstellte. (lacht)
"Die schönsten Momente zerfließen wie Sand durch die Hände"
Ihr Rücktritt ist nun schon drei Jahre her.
Wahnsinn, die drei Jahre sind auch im Ruhestand schnell vergangen. Ich sag' zu meiner Frau immer wieder, wenn wir einen schönen Moment haben: Wir müssen ihn genießen, genießen, genießen. Die schönsten Momente zerfließen wie Sand durch die Hände. Die schönsten Erfolge, die muss man bewusst miterleben. Das ist eine Lehre aus meiner Karriere.
Was machen Sie heute?
Wir sind im November 2021 nach Holland gezogen und fühlen uns dort sehr wohl. Ich genieße die Freiheit unheimlich, die ich auf dem Rad habe. Weiterfahren zu können, aber nur viel, viel langsamer als früher. (lacht) Ich bin auch gerne für meine Partner als Botschafter unterwegs - genauso genieße ich es, dass ich auch als TV-Experte die Profirennen mit begleiten darf, nicht das ganze Jahr, aber zur Tour de France oder bei der Deutschland Tour.
Wie blicken Sie auf den aktuellen Radsport?
Man hat dieses Jahr gesehen, dass spannende neue Sportler kommen. Die Tour war spannend, auch die Vuelta, wo sich die neuen Talente endgültig richtig durchgesetzt haben. Jonas Vingegaard war eine tolle Geschichte, auch Remco Evenepoel. Da kommen auf breiter Front große Talente in die Sternstunden ihrer Karriere.
"Jetzt müssen es die jüngeren Fahrer wuppen"
Sie haben nicht das Gefühl, dass Sie in einem Team wieder intensiver einsteigen wollen?
Ich finde den Platz schön, den ich jetzt für mich gefunden habe. Ich würde es nie ausschließen - ich glaube, ich könnte dem Ganzen etwas hinzufügen - aber sehe das im Moment nicht als Option.
Ihre Einschätzung zum deutschen Radsportjahr lautet?
Das war zeitweise durchwachsen, aber unterm Strich erfolgreich. Wenn ich zu den Männern schaue, hatten wir einen guten Giro. Bei der Tour hat man gehofft, dass man noch stärker ist, trotzdem gab es Simon Geschke, der die Tour geprägt hat. Auch wenn es keinen Etappensieg gab, gab es eine emotionale Sportgeschichte. Das ist was wert. Die Frauen waren noch erfolgreicher unterwegs mit Liane Lippert.
Eine Generation ist abgetreten mit Ihnen, Tony Martin, André Greipel oder näher am Karriereende als am Leistungszenit wie John Degenkolb und Simon Geschke. Neigt sich eine Ära dem Ende zu?
Das kann man so sagen. Es ist eine Gruppe von deutschen Rennfahrern, die den Sport geprägt hat, sehr erfolgreich mitgeprägt hat. Das tut in dem Sinne weh, dass der Fan die Erfolge vermissen wird, er war schon sehr erfolgsverwöhnt gerade bei der Tour in den letzten zehn Jahren. Das wird ein bisschen anders werden, aber dann müssen es jetzt die jüngeren Fahrer wuppen.
Wer sind die Sterne am deutschen Radsporthimmel?
Erstmal die Altbekannten wie Lennard Kämna, dann Nils Politt bei den Klassikern, ein Maximilian Schachmann, ein Georg Zimmermann. Wenn man zu den Nachwuchsjungs schaut, fällt Michel Heßmann auf. Da kommt schon was.
"Es wird schwer für die Männer, sie sind bei weitem nicht die Favoriten"
Wie sind die Voraussetzungen in Deutschland?
Man muss festhalten, dass die deutschen Teams wie Bora-hansgrohe der Katalysator bleiben müssen, um junge Talente hochzuholen. Es braucht für deutsche Fahrer einen solchen Leuchtturm als Perspektive. Trotzdem ist es schwer, in der Breite die Infrastruktur zu schaffen, die Talente daheim zu halten. Die guten Jungs werden sich anderweitig orientieren wie Heßmann oder Hannes Wilksch. Sie wissen, dass sie das hohe Niveau brauchen, um den Sprung zu schaffen.
Es wird die zweite WM in Australien sein. Was hat der Kurs zu bieten?
Ich würde sagen, aus Sprintersicht nicht viel Gutes (lacht). Es ist ein tougher Kurs für das Männer-Straßenrennen, fast 4.000 Höhenmeter und 266 Kilometer.
Die deutschen Aussichten bei der WM?
Da müssen wir uns nichts vormachen. Es wird schwer für die Männer, sie sind bei weitem nicht die Favoriten. Es ist eine bewusste Wahl für die jungen Rennfahrer, nachdem Schachmann, Politt, Kämna nicht dabei sind. Mit Nikias Arndt haben sie einen guten Road Captain, Zimmermann kann im Finale was probieren. Underdogposition, manchmal ist das nicht schlecht. Die U23-Männer haben Medaillenaussichten in beiden Disziplinen. Bei den Frauen kann Liane Lippert vorn mithalten.
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