Locker, lustig, Löw
WIEN - Der Bundestrainer wird auf die Tribüne verbannt. Jogi Löw erlebt dort die wichtigste Halbzeit seiner Trainerkarriere - und jubelt wie ein Fan.
Von wegen „högschde Disziplin“. Der Bundestrainer ließ sich gehen, er verlor die Contenance - und in der Folge seinen angestammten Platz. Weil Joachim Löw (und auch sein österreichischer Trainerkollege Josef Hickersberger) in der Schlussphase der ersten Halbzeit immer wieder ihre Coaching Zone verlassen hatten, um mit dem vierten Offiziellen an der Seitenlinie lautstark zu debattieren, wurde er in der 41. Minute vom spanischen Schiedsrichter Mejuto Gonzales auf die Tribüne verbannt.
Löw reagierte zunächst mit Unverständnis. Fluchte, gestikulierte, fügte sich dann aber und klatschte sich auf dem Weg nach oben sogar noch mit dem ebenfalls verbannten Hickersberger ab. Oben, auf den Ehrenrängen, war er dann ein viel gefragter Mann. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Lichtgestalt Franz Beckenbauer und auch der gesperrte Nationalspieler Bastian Schweinsteiger, sie alle wollten wissen, was vorgefallen war. Löw, der in der Halbzeit in die Kabine durfte, um die Mannschaft einzustimmen (und auch in den Katakomben noch einmal Hickersberger abklatschte), nahm’s locker – es schien fast, als habe er auf dem Weg nach oben auch die Anspannung zurückgelassen.
Gejubelt wie ein Fan
Relaxed verfolgte Löw die wichtigste Halbzeit seiner Trainerkarriere aus der Zuschauerperspektive, hinter ihm Boris Becker, links neben ihm das Ehepaar Bierhoff, rechts Schweinsteiger. Löw jubelte wie ein Fan, und als Kapitän Ballack mit dem 1:0 das Team und den Coach persönlich erlöste, fiel der Bundestrainer dem gesperrten Schweinsteiger um den Hals.
Erleichtert war er, keine Frage. Und dies konnte Löw auch nicht mit seiner ihm sonst eigenen Lässigkeit und Nonchalance überspielen. Hatte er doch vor dem 1:0 versprochen: „Wir werden das Viertelfinale erreichen. Wir werden nicht ausscheiden.“
Es ging um seinen Job
Er wusste, dass es in diesem Spiel nicht nur um das Erreichen eines EM-Viertelfinals gegangen war. Es war um ihn, um seinen Job gegangen. Und damit auch um ein langfristiges Konzept, das bereits mit der Inthronisierung von Jürgen Klinsmann im Juli 2004 begonnen hatte.
Löw führte die Mannschaft im Geiste Klinsmann nach der WM 2006 in eigener Verantwortung fort. Es war nicht nur eine Fortführung, es war eine Fortentwicklung. Löw gelang es, nicht nur ein offensives, sehr gut anzuschauendes Spielsystem weiter zu verfeinern, noch mehr Professionalität zu installieren, einzelne Spieler schlicht zu verbessern, sondern auch sein eigenes Profil zu schärfen.
Beinahe des Schicksal des Ergebnisfußballs
Löw, der Unantastbare, der smarte, eloquente, charmante, gut gekleidete Gutmensch, war außen vor. Im Lande war Löw ohne ein einziges Länderspiel als Aktiver beinahe ähnlich populär geworden wie „Uns Rudi“ Völler. Und nun traf ihn beinahe das Schicksal des Ergebnisfußballs, das alle Sympathie für ihn als Typ und jede Anerkennung seiner fachlichen Qualitäten gnadenlos hinwegspült hatte.
Das geschah zum Glück nicht. In nur zwei Partien hätte sich die 23-monatige Ära von Löw beinahe um 180 Grad gedreht. Da hätten nicht einmal Treueschwüre von DFB-Präsident Theo Zwanziger oder Lobeshymnen von Teammanager Oliver Bierhoff geholfen.
Der Super-GAU, die „högschde Gefahr“, ist mit dem Viertelfinal-Einzug abgewendet. Und damit auch die Gewissheit geschaffen, dass die Arbeit von Löw mindestens bis zu seinem Vertragsende 2010 fortgesetzt wird, mindestens bis zur WM in Südafrika -sollte er die Qualifikation schaffen.
Der Weg ist frei
Mit der Österreich-Partie hat Löw sein wichtigstes Spiel überstanden, auch der DFB. Eine Entlassung mit einer Nachfolgediskussion hätte den Verband um Jahre zurückgeworfen – und das alles wegen zweier verlorener Spiele? Nun ist der Weg frei. Womöglich bis zum Finale. Die Mannschaft und Löw haben ein Spiel verloren und danach ein Druck-Spiel, ein Knackpunktspiel, überstanden. Das schweißt zusammen.
Die zur Bergtour proklamierte EM kann nun von der Mittelstation fortgesetzt werden.
Patrick Strasser