Lisickis Abschied im Rollstuhl
NEW YORK - Das tragische Ende eines verrückten Matches: Sabine Lisicki sah erst aus wie die sichere Verliererin, dann wirkte es, als ob sie ihr Spiel gegen Anastasia Rodionova gewinnen würde. Am Ende verlor sie: das Spiel und ihre Unversehrtheit.
Es geht den Schützlingen der Bollettieri-Akademie in harten Lehrjahren in Fleisch und Blut über, es ist sozusagen das erste und oberste Gebot: Nie, nie, nie auch nur einen einzigen Punkt verloren zu geben, nie den Kampf zu beenden, bevor die Niederlage wirklich feststeht. Und so hetzt Sabine Lisicki am Donnerstagabend, kurz nach 17 Uhr Ortszeit in New York, eben auch beim Matchball ihrer Gegnerin Anastasia Rodionova in auswegloser Lage dem Ball hinterher, weit hinaus aus dem Feld wird sie getrieben - ohne echte Chance, diesen Matchball beim Stand von 5:6 im dritten Akt des US Open-Zweitundendramas noch abwehren zu können.
Gerade als Lisicki die Kugel dann mit letzter Kraft noch einmal ins Feld ihrer Gegnerin zurück befördert, ist der folgenschwere Moment gekommen, in dem ihr unermüdliches Kämpferherz sie mitten in die dunkelste Episode ihrer jungen Karriere führt: Lisicki gerät ins Stolpern, bleibt stecken auf dem Betonboden von Court 11, knickt um und geht schliesslich mit einem lauten Aufschrei des Entsetzens zu Boden. Und während sich Lisicki bereits vor Schmerzen krümmt und ihr die Tränen in die Augens schießen, schubst die gebürtige Russin Rodionova, die jetzt für Australien startet, den Ball mühelos zum 6:3, 3:6, 7:5-Sieg ins Feld.
Die US Open, die nach einer langwierigen Schulterverletzung ohnehin als schwierige, heikle Mission für Lisicki begannen, enden so in Schmerz und abgrundtiefer Enttäuschung- und mit einem Abschied von Platz 11 im Rollstuhl. Noch am Donnerstagabend wird Lisicki in einem New Yorker Krankenhaus geröntgt. Die Ärzte stellen eine schwere Stauchung fest, doch weitere Untersuchungen und eine Kernspintomographie sollen bis zum Wochenende „mehr Klarheit bringen“, wird Lisicki in einem Statement der Spielerinnenorganisation WTA zitiert. „Der Schock bei Sabine ist riesengroß gewesen, noch größer als der Schmerz“, sagt Bundestrainerin Barbara Rittner, selbst Augenzeugin des Malheurs, „das war so ein Augenblick, in dem die Welt einstürzt. In dem nur noch große Finsternis ist.“
Das hat auch mit dem Drama des Spiels zu tun, das dem Drama der Verletzung vorangeht. Denn auf dem Showplatz 11 erleben die Eltern von Sabine Lisicki, Vater Richard und Mutter Elisabeth, genauso wie DTB-Frau Rittner und 1500 Fans eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die selbst bei den verrückten US Open nur selten passiert. Anderthalb Sätze lang ist Lisicki praktisch gar nicht auf dem Platz, wirkt mutlos und verzagt. Beim 3:6, 0:3-Zwischenstand setzt niemand auch nur einen Cent auf die Berliner Teenagerin. Doch plötzlich wendet sich das Spiel: Lisicki findet ihren Rhythmus, ihr Selbstbewusstsein und ihre Schlagpräzision. Die Aufholjagd geht rasend schnell: Die nächsten sechs Spiele gewinnt allesamt die 19-jährige, und damit ist das 6:3 und der 1:1-Satzausgleich perfekt. Auf der Tribüne sagt Rittner: „Das gewinnt sie jetzt.“
Sie scheint recht zu behalten, denn Lisicki geht auch im dritten Satz schnell in Führung, erst 4:1, dann 5:2. Beim 5:3 hat die Wimbledon-Viertelfinalistin dann zwei Matchbälle: Beim ersten Siegpunkt knallt Lisicki einen Vorhandball, wenn überhaupt, einen Millimeter neben die Seitenlinie – Vater Richard sieht den Ball gut, springt von seinem Sitz auf und ruft: „Jaaa.“ Doch Schiedsrichterin Lynn Welch bestätigt die Entscheidung der Linienrichterin, und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Beim zweiten Matchball leistet sich Lisicki einen Doppelfehler, er wirkt wie ein Knockout-Punch. Denn von da an geht es in diesem Zick-Zack-Spiel wieder abwärts für Lisicki. 5:4, 5:5, 5:6, dann schlägt Rodianova zum Sieg auf, führt 30:0, doch noch einmal kommt Lisicki zurück, erkämpft sich einen Breakball zum 6:6, vergibt aber auch ihn. Wenig später endet das Spiel, das erst verloren schien, das dann gewonnen schien, mit Sturz und Niederlage. Gerade erst von der Schulterverletzung genesen und mit einem Notaufschlag an den Start gegangen in New York, droht nun schon wieder eine Auszeit. Wie lange? Noch weiss es keiner.
Jörg Allmeroth
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