Lilli - zwischen Mr. Bean und Monty Python

Erst disqualifiziert, dann doch eine Medaille: Weil eine Kampfrichterin sie mit einer Russin verwechselt, muss Schwarzkopf lange auf Silber warten: „Ich dachte, das ist britischer Humor”
von  jos

London - Silber, Disqualifikation, Silber! So richtig dramatisch wurde es für Siebenkämpferin Lilli Schwarzkopf erst nach dem ohnehin schon nervenaufreibenden Wettkampf. Irgendwann am sehr, sehr späten Samstagabend saß die 28-Jährige einsam und verlassen in den Katakomben des Olympiastadions. Tatsächlich war es schon düster, nur noch ein paar Lichter brannten. Noch immer konnte sie nicht fassen, was ihr da widerfahren war. Sie war durch die Hölle gegangen, sie hatte bittere Tränen vergossen. Doch nun konnte Lilli Schwarzkopf endlich lächeln, sich endlich freuen. Mit festem Griff umklammerte sie die schwarze Schatulle, in der lag, was sie auf keinen Fall ein weiteres Mal aus der Hand geben wollte: ihre Silbermedaille, die sie durch eine Farce fast verloren hätte.

„Ich war wie tot”, sagte Schwarzkopf am Tag danach über jene Minuten zwischen Himmel und Hölle. Mit Entsetzen hatte die Siebenkämpferin im Ziel des abschließenden 800-Meter-Laufs auf die Anzeigetafel gestarrt, auf der hinter ihrem Namen „DQ” aufleuchtete – disqualifiziert. Silber verloren. „Ich dachte nur, mein Tag kann nicht so enden. Nein, bitte nicht! Was für eine Horrorvorstellung.” Eine Kampfrichterin kam auf sie zu, Ende 50 vielleicht, freundlich, ergrautes Haar. „Man sagte mir, ich hätte die Linie betreten. Ich sagte dann: ,Das müssen Sie mir erst zeigen’”, erzählte Schwarzkopf. „Bei der Fernsehaufnahme hat man dann sofort gesehen, dass es nicht mein Fuß war.” Silber gewonnen. Das Ende der Qual. „Die Kampfrichterin sagte: ,Ich habe einen Fehler gemacht’”, berichtete Schwarzkopf, „sie sagte dann ganz trocken: ,Ich werde Sie in die Wertung wieder aufnehmen und Ihre Zeit wieder berücksichtigen. Wir müssen das Ergebnis im Stadion wohl noch mal einblenden.’ Ich habe gesagt: ,Bitte machen Sie das.’” Fehler seien zwar menschlich, „aber so ein Irrtum dürfte eigentlich nicht sein”.

Vielleicht, vermutete Schwarzkopf, war es die Fortsetzung von Monty Python und Mr. Bean: „Ich dachte, das ist eine Art des britischen Humors. Das war wirklich ein Geschenk der Briten über den Wettkampf hinaus bis an mein Lebensende.” Nach 85 Minuten quälender Ungewissheit hatte Schwarzkopf Silber sicher, mit 6649 Punkten, einer Steigerung ihrer Bestleistung um 113 Zähler. Um 22.24 Uhr Ortszeit hing die Medaille dann auch um ihren Hals – ihr größter Triumph. Die Jury hatte die 1,74 Meter große Blondine Schwarzkopf zuvor schlicht mit der neben ihr laufenden Russin Kristina Sawizkaja verwechselt.


Ein peinlicher Fauxpas, der Schwarzkopf auf eine emotionale Achterbahnfahrt schickte. „Ich bin in einen Abgrund gefallen, der keinen Boden hatte”, berichtete sie bewegt, „dann sind mir Zentnerlasten vom Herzen geplumpst. Diese ganze Aufregung hat mich um 20, 30 Jahre altern lassen.” Ohne Zeitreise ist Schwarzkopf ja erst 28 Jahre alt.

In der Hektik ging fast unter, dass die gebürtige Kasachin im Sog der von ihren Landsleuten stürmisch gefeierten Britin Jessica Ennis (Gold mit 6955 Punkten) einen sensationellen Wettkampf abgeliefert hat, mit fünf persönlichen oder Saison-Bestleistungen. Und das ohne ihren Trainer und Vater Reinhold an ihrer Seite: „Er hat mir sehr gefehlt in den letzten Tagen. Mit ihm hätte ich eine Schulter gehabt, an die ich mich hätte anlehnen können.” Vor allem auch an diesem Abend.
Doch auch allein überstand die Sportstudentin diesen unvergesslichen Tag. „Gut, die Ehrenrunde wurde mir leider geklaut”, sagte sie, „aber wenn es so ausgeht – sei es drum.” Ihre Schatulle und der Inhalt werden sie an den 4. August 2012 erinnern. Auf ewig.

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