Lärmend durch Nazaret
Der Stadtkurs von Valencia ist zum ersten Mal im Rennkalender der Formel 1. Ein Report nach den ersten Trainingsfahrten am Freitag – die Boliden zwischen Dosenbier und Industriegebiet
VALENCIA Und plötzlich steht die Zeit still. Es ist zwölf Uhr mittags in Valencia, als das geschäftsmäßige Treiben im Hafen von absoluter Stille unterbrochen wird.
Es ist eine vollkommene, eine einmalige Stille, die da über dem Formel-1-Fahrerlager hängt und nur vom sanften Rauschen des Meeres übertüncht wird. Die Formel 1 gedenkt in dieser Minute schweigend den Todesopfern der Flugzeug-Katastrophe von Madrid. Und das mit dem teuersten Gut, das diese Szene besitzt. Denn wann macht die Formel 1 denn schon mal keinen Lärm?
Lärm, wegen dem dieses Rennen durch den Hafen, das am Sonntag (14 Uhr, RTL und Premiere live) erstmals ausgetragen wird, unter Umständen sogar noch hätte abgesagt werden müssen. Verschiedene Umweltgruppen und Anwohner hatten gegen die Durchführung des Spektakels geklagt. Zu laut, zu chaotisch, zu unsicher sei das Rennen durch die Stadt. Der Prozess ging durch alle Instanzen, die Formel 1 wird starten.
Auch weil sich zumindest die Befürchtungen der Anwohner nicht bewahrheitet haben. Denn das, was die Organisatoren als Stadtrennen angekündigt hatten, als zweites Monaco gar, ist in Wirklichkeit größtenteils eine Hochgeschwindigkeitsfahrt durch ein Industriegebiet.
Große Teile der Strecke führen am Industriehafen Valencias entlang. Im südlichen Teil der Strecke, das durch einen Ortsteil namens Nazaret führt, beginnt ein Neubaugebiet. Viele Menschen leben dort noch nicht. Und im nördlich gelegenen älteren Stadtteil San Cristobal scheinen die meisten Anrainer im Urlaub zu sein. Denn ein Großteil dieser Wohnungen mit Blick auf die Strecke sind an Formel-1-Touristen vermietet. Während sich in Monte Carlo die Schönheiten auf den Dachterassen sonnen, wenn unten die Autos vorbeibrausen, sitzen hier auf den Balkons dickbäuchige Fans, trinken Dosenbier und beobachten, was die Fahrer so treiben.
Und nur wer hier in San Cristobal ist, bekommt den Eindruck, dass dieser Kurs wirklich mitten in der Stadt liegt. Nur von hier kann man wirklich auf die von Betonmauern umzäunte Strecke blicken.
Das, was Norbert Haug, der Mercedes-Motorsportchef, im Vorfeld gesagt hatte, dass nämlich Monaco und Valencia nur der Hafen und das Mittelmeer eine, hat sich in den ersten zwei Tagen dieses Rennwochenendes auf eine eher negative Art bewahrheitet.
Die hübsche, verwinkelte Altstadt ist rund fünf Kilometer weit weg, auch die neuen Wahrzeichen der Stadt, die vom Stararchitekten Alberto Calatrava erbauten futuristischen Opernhäuser, Kinos, Kunstmuseen und das eindrucksvolle Oceanografic sind von der Strecke aus nur zu erahnen.
Die Besucher der Calatrava-Bauten bekommen von der Formel 1 auch nichts mit. Selbst der erst vor zwei Jahren für den America's Cup aufwändig renovierte Yachthafen mit seinen 300 Jahre alten prächtigen Lagerhallen ist kaum mehr zu erkennen. Die Tribünen verwehren den Blick auf den Hafen. Immerhin ist die mächtige „Emperor of India“, die 95-Meter-Yacht von Vijay Mallya, dem Chef des Gräfelfinger Piloten Adrian Sutil, von fast überall gut zu sehen.
„Das ist eher ein Stadtkurs, wie man sie in Amerika baut“, sagt BMW-Pilot Nick Heidfeld über die Strecke. „Meine Aufgabe war, eine schnelle, sichere und fahrerisch anspruchsvolle Rennstrecke am Hafen von Valencia zu bauen“, sagt Hermann Tilke, der Streckenarchitekt aus Aachen.
Das ist ihm zweifellos gelungen. Die Fahrer hatten am Freitag bei den freien Trainings jedenfalls viel Spaß im Betonkanal. Schließlich können sie sich hier sogar Fehler erlauben. An den meisten kritischen Punkten gibt es große Auslaufzonen, zumindest am Freitag kamen alle bei jedem Dreher ohne größere Blechschäden davon.
Und doch verlangt dieser Rundkurs durch den Valencianer Hafen auch eine gehörige Portion Mut von den Piloten. „Auf den langen Geraden und auch in den schnellen Kurven im letzten Sektor muss man durchaus auch mal die Pobacken zusammenkneifen", sagt etwa Toro-Rosso-Pilot Sebastian Vettel, „ich denke aber, dass ich es schaffe, trocken auszusteigen." Die Fahrer haben den Kurs schnell in ihr Herz geschlossen. Die Fans scheinen sich noch daran gewöhnen zu müssen. Erst am Donnerstag meldeten die Veranstalter, dass sie alle verfügbaren 171 000 Eintrittskarten für das Wochenende verkaufen konnten.
Filippo Cataldo