Interview

Kristina Vogel: "Ich bin kein Mentalmonster, keine Maschine – sondern nur ein Mensch"

Seit einem Trainingsunfall 2018 sitzt die einstige Bahnrad-Queen Kristina Vogel im Rollstuhl. In der AZ spricht sie über ihr neues Leben und ihren Sport: "Eine Achterbahnfahrt, während der man Schach spielt."
Florian Kinast |
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"Der Rollstuhl ist inzwischen ein Teil von mir. Ein Hilfsmittel, das mir alle möglichen Freiheiten gibt", sagt die ehemalige Bahnrad-Ausnahmeathletin Kristina Vogel, die seit einem Trainingsunfall im Juni 2018 im Rollstuhl sitzt.
"Der Rollstuhl ist inzwischen ein Teil von mir. Ein Hilfsmittel, das mir alle möglichen Freiheiten gibt", sagt die ehemalige Bahnrad-Ausnahmeathletin Kristina Vogel, die seit einem Trainingsunfall im Juni 2018 im Rollstuhl sitzt. © picture alliance/dpa

München - AZ-Interview mit Kristina Vogel: Die jetzt 31-Jährige war eine der erfolgreichsten Bahnrad-Sportlerinnen der Welt, sie holte zwei Mal olympisches Gold, war elf Mal Weltmeisterin. Seit einem Trainingsunfall im Juni 2018 ist sie querschnittsgelähmt.

AZ: Frau Vogel, vor einigen Tagen, am 2. August, jährte sich Ihr Olympia-Gold von London zum zehnten Mal. Haben Sie das Jubiläum gefeiert?
KRISTINA VOGEL: Mir war das gar nicht bewusst, ich hielt an dem Tag einen Vortrag, als eine Zuhörerin danach auf mich zukam und mir zum Zehnjährigen gratulierte. Ich denke sehr oft schwelgend und mit Gänsehaut an die wunderschöne Zeit in London und an Gold 2016 in Rio. Gleichzeitig erschrecke ich, wenn ich dabei feststelle, wie schnell die Zeit vergeht.

Gibt es noch Momente, in denen es wehtut, dass Sie nicht mehr dabei sein können?
Von außen mag man das denken, dass ich da viel Herzschmerz habe. Ist aber gar nicht so. Ich freu mich jedes Mal, wenn ich an eine Radrennbahn komme, die Atmosphäre spüre und rieche. Jetzt bei der EM in München darf ich auch wieder als ZDF-Expertin vor Ort sein, ich bin schon richtig euphorisch, und freue mich die deutschen Fahrerinnen und Fahrer zu kommentieren, da fiebere ich genauso mit, als wäre ich selbst noch dabei. Bahnrad ist einfach der geilste Sport der Welt.

"Bahnrad ist wie eine Achterbahnfahrt, während der man Schach spielt"

Warum das denn?
Weil es aus so vielen Komponenten besteht, auf die Beine genauso ankommt wie auf den Kopf. Ich kenne keine Sportart, bei der die Taktik neben der Geschwindigkeit eine so große Rolle spielt wie hier. Wenn du mit 70 Sachen durch die Kurve fährst und du dir in dem Moment strategisch deine nächsten Züge zurechtlegen musst, dann ist das schon sehr speziell. Bahnrad ist letztlich wie eine Achterbahnfahrt, während der man Schach spielt.

Kristina Vogel 2018 bei der Bahnrad-EM in Glasgow.
Kristina Vogel 2018 bei der Bahnrad-EM in Glasgow. © picture alliance/dpa

Sie sagten vergangenes Jahr, Sie seien immer wieder verblüfft, was im und mit dem Rollstuhl alles geht. Wie oft erleben Sie Glücksmomente, wenn Ihnen wieder etwas überraschend gelingt? Und wie oft verspüren Sie Frust, weil etwas nicht mehr klappt?
Am Ende geht alles, irgendwie. Man muss nur kreativ sein. Klar kann ich keine Gardinen mehr aufhängen und auch den Kasten Bier nicht mehr aus dem Keller holen. Aber ich verspüre jeden Tag ein Gefühl der Verwunderung und der Begeisterung, welchen Weg ich für mich gefunden habe, was mir alles glückt. Kürzlich wollte ich an ein Kopfkissen im obersten Schrankregal, da bog ich eben einen Kleiderbügel auf und angelte es mir herunter. Mit etwas erfinderischem Geist ist alles kein Problem.

Der Rollstuhl ist für Sie inzwischen was? Begleiter, Helfer - ein Teil von Ihnen selbst?
Ein Teil von mir. Ein Hilfsmittel, das mir alle möglichen Freiheiten gibt. Deswegen wehre ich mich auch gegen die Formulierung, als Querschnittsgelähmte sei man an den Rollstuhl "gefesselt". Ganz im Gegenteil, erst der Rollstuhl ermöglicht mir Mobilität. Stellen Sie sich vor, ansonsten müsste ich ja dauernd durch die Gegend robben. Das wäre ziemlich anstrengend und sähe seltsam aus.

Dass Sie den Rollstuhl mal vergessen, passiert nicht mehr?
Nein, das war eine nette Episode aus der Anfangszeit, als ich kurz parkte, um mal eben in den Blumenladen zu gehen, und ich mir dachte: Ach, für die paar Meter kannst du den Rollstuhl auch im Auto lassen. Bis ich dann merkte: Mist, geht ja gar nicht. Mittlerweile hab ich das verinnerlicht.

 "Mir würde die Bahn in München auch etwas Angst machen"

Reden wir mal über das Sportliche: Vor einem Jahr gab es bei Olympia in Tokio auf der Radbahn nur einmal Gold durch den Frauen-Vierer, danach übten Sie massive Kritik an den Strukturen im deutschen Verband, mit zu wenig Personal und zu wenig Förderung. Hat sich inzwischen etwas gebessert?
Zum Glück ja. Mit Jan van Eijden haben wir seit November einen neuen und sehr kompetenten Bundestrainer, der viel frischen Wind reingebracht und einiges umgekrempelt hat. Er legt viel mehr Wert auf Erkenntnisse aus der Trainingswissenschaft, aber auch aus dem mentalen Bereich. Das war in Tokio bei einigen Sportlerinnen das Problem, sie hatten zwar gute Beine, waren aber mental nicht gut eingestellt. Anders ausgedrückt, sie konnten zwar mit High Speed durch die Achterbahn, nur Schach spielen konnten sie nicht. Und es gab damals eben keinen im System, der ihnen kurzfristig helfen konnte, wie sie im Kopf die Figuren wieder am besten übers Brett bewegen. Für München bin ich zuversichtlicher, die Frauen sind sehr gut drauf, die Männer haben noch Nachholbedarf, da blicke ich perspektivisch mit Hoffnung auf Olympia 2024.

Für Aufsehen sorgte der Umstand, dass bei der EM in München auf einer 200-Meter-Bahn gefahren wird und die Runde nicht wie üblich 250 Meter beträgt, mehr gibt die Halle auf dem Messegelände nicht her. Was macht das für einen Unterschied?
Einen wirklich gewaltigen. Es wird viel schwieriger, die schwarze Linie, also die Ideallinie am unteren Rand der Bahn zu halten, der Kurvendruck auf die Fahrer wird viel höher. Wenn ich an Disziplinen wie das Zweier-Mannschaftsfahren denke oder gerade den Keirin, den Kampfsprint, wo bei Tempo 80 die Ellbogen ausgefahren und brutale Gänge gefahren werden, dann fürchte ich bei diesen noch engeren Radien um schlimme Stürze. Ich habe gehört, dass manch ein Verband überlegt, etwa im Keirin aus Sicherheitsgründen nicht anzutreten. Ich kann das gut nachvollziehen. Mir würde die Bahn auch etwas Angst machen.

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Bei den Commonwealth Games in Birmingham gab es eben verheerende Unfälle, der Engländer Joe Truman erlitt bei einem Sturz ein Schädel-Hirn-Trauma, sein Landsmann Matt Walls flog nach einem Massensturz über die Bahn hinaus auf die Tribüne, auch Zuschauer wurden verletzt. Danach wurden die Bahnradwettbewerbe abgebrochen. Hat man die Grenzen des Spektakels inzwischen zu sehr ausgereizt?
Nein, prinzipiell würde ich das nicht so sehen. Stürze gehören zum Radsport leider dazu und manchmal sind die Folgen halt etwas schlimmer, gerade wenn die Geschwindigkeiten hoch sind. Aber ich sehe da keinen neuen und generellen Trend.

Wie sehen Sie Ihre persönliche Zukunft? Sie sitzen seit 2019 für die CDU im Stadtrat in Erfurt, behagt Ihnen die Politik mehr als der Sport?
Politik kann viel Spaß machen, aber auch wehtun. Für mich waren die drei Jahre bisher eine sehr spannende Erfahrung, wie konsensorientiert und diplomatisch man dort im Sinne einer Lösung agieren muss. Ich sitze auch in der Athletenkommission des Radweltverbands, da geht das viel schneller und pragmatischer, da werden bei jeder Sitzung Nägel mit Köpfen gemacht. In der Politik dauert das viel länger, weil alle Meinungen gehört und verstanden werden müssen, das ist natürlich auch gut und wichtig und ein unverzichtbares Kernelement der Demokratie. Nur manchmal ist das eben auch frustrierend, wenn sich ein Prozess so ewig lang hinzieht.

Vor zwei Jahren kündigten Sie an, spätestens 2021 oder 2022 erstmals den niederländischen Fahrer zu treffen, der an jenem verhängnisvollen Tag 2018 in der Bahn stand und Ihren folgenschweren Sturz verursachte. Kam es inzwischen zu dieser Begegnung?
Nein, und ganz ehrlich bin ich auch recht dankbar dafür. Ich bin vom ersten Tag sehr offen mit meinem Unfall umgegangen und habe schnell gelernt, mein neues Leben anzunehmen. Ich habe nie Hass oder Groll verspürt, zumal er nicht allein verantwortlich für den Unfall war, es waren ja viele Menschen an dem Tag beteiligt. Warum hatte ihn keiner von der Bahn geholt, warum haben die Trainer nicht gewarnt. So sehr ich damit abgeschlossen habe, es könnte gut sein, dass das Treffen wieder viel Schmerz hervorruft. Er ist die Personifizierung meiner Geschichte und der Tatsache, dass ich fast gestorben wäre. Ich brauche das Treffen sicher nicht, um etwas zu verarbeiten, ich hätte großen Respekt davor, was diese Begegnung mit mir macht. Ich bin keine Maschine und kein Mentalmonster. Sondern nur ein Mensch.

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