Kohlschreiber: "Maus im Schlangenkäfig"

LONDON - Eigentlich hat er keine Chance gegen Roger Federer im "Spiel David gegen Goliath". Doch die will Philipp Kohlschreiber nutzen in Wimbledon.
Als Philipp Kohlschreiber sich am späten Mittwochabend gerade von den Strapazen seines mühseligen Pflichtsieges gegen den Tschechen Ivo Minar erholte, lief ihm im Spielerzentrum plötzlich der junge Schweizer Davis Cup-Coach Severin Lüthi über den Weg. „Ich hab´ Dich genau beobachtet eben auf Platz 14. Ich weiss alles“, scherzte der Intimus und Teilzeittrainer von Roger Federer in Richtung des Deutschen. Worauf Kohlschreiber lakonisch zurückgab: „Viel hast Du ja nicht gesehen. Ich hab´absichtlich schlecht gespielt, damit Du Deinem Chef nichts Schlaues erzählen kannst.“
Tatsächlich hat sich Kohlschreiber noch genügend Raum zur Steigerung gelassen – vor seinem erfreulichen Rendezvous mit dem eidgenössischen Maestro und fünfmaligen Champion im All England Club, das an diesem Freitag wahrscheinlich auf dem zweitgrößten Spielplatz stattfinden wird, auf Court Eins. Für den hochbegabten Bayern, dem zum Durchbruch in die engere Weltspitze noch immer die spielerische Konstanz auf hohem Niveau fehlt, hat die Verabredung mit dem „Unantastbaren“ immerhin einen großen Vorteil: „Gegen ihn weisst du genau, was dich erwartet. Das schwerste Spiel überhaupt“, sagt Kohlschreiber, „so was wie gegen Minar passiert da nicht. Da sagen dir alle möglichen Leute: Leichter Job, das machst du schon. Und dann kriegst du die Panik, weil es nicht so läuft.“
Federer: "Er hat das Potenzial, um die Großen zu schlagen"
Besonders belobigend ist es nicht, wenn man Kohlschreiber in seinem siebten Berufsjahr immer noch als „Wundertüte“ bezeichnet, in der alles drinstecken kann bei einem Einsatz in der großen weiten Tenniswelt. Kohlschreiber kann, wie in Melbourne, eine blamable Figur abgeben bei einer Niederlage gegen den französischen Veteranen Fabrice Santoro und sich hinterher auch noch beklagen, dass Grand Slam-Matches über maximal fünf Sätze gespielt werden. Aber genau so gut kann er, wie in Paris , ein bestechender Favoritenkiller sein, der mit Novak Djokovic einen der Superstars der Branche aus dem Turnier katapultiert. Kohlschreiber folgt fast schon der Tradition der jetzigen Ü 30-Fraktion um Tommy Haas und Nicolas Kiefer, Spielern eben, die an einigen guten Tagen die Elite ins Schwitzen brachten – denen aber auch der lange Atem und die Disziplin fehlten, um sich festzusetzen in den Top Ten.
Das Spiel gegen Federer zählt gewiss nicht zu der Handvoll Matches in einem Jahr, die gewöhnlich einen klaren Trend in der sportlichen Entwicklung und persönlichen Reife abbilden. Dazu zählt schon eher eins wie das gegen den Spanier Tommy Robredo bei den French Open, das Spiel, das auf den Sensationscoup gegen Djokovic folgte. Kohlschreiber verlor es – weil er noch immer bei diesen großen Auftritten nicht über ein stabiles Nervenkostüm verfügt, weil ihm zu viele Gedanken und Überlegungen durch den Kopf schießen. Er kann dann nicht, wie die Experten sagen, im „free flow“ spielen, unbelastet, unbeschwert – ohne daran zu denken, in welcher fortgeschrittenen Runde er spielt und was ihm noch positiv blühen könnte bei einem Turnier. „Er hat das Potenzial, um die Großen zu schlagen“, sagt Federer über Kohlschreiber, aber das scheinbare Kompliment enthält auch einen Vorwurf: Man muss es auch nutzen, das Potenzial.
Wenn er gut spiele, sagt sich Kohlschreiber selbst zu Recht, dann könne er auch die „Topjungs schlagen.“ Gewollt hat er das Treffen mit Federer unbedingt und deshalb auch „großes Herz“ bei der Aufholajgd nach 1:2-Satzrückstand gegen Minar gezeigt. Wie er sich realistisch gegen den Meister aller Klassen sehe, wurde Kohlschreiber schliesslich noch einmal gefragt am späten Mittwochabend: „Das ist schon ein David gegen Goliath-Spiel“, sagte er, „oder wie Maus im Schlangenkäfig.“
Jörg Allmeroth