Kohlschreiber: Die große Null

Philipp Kohlschreiber, der schlechte Verlierer: Er verliert ein Spiel, einen Freund und den Respekt.
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Fünf Sätze sind ihm zu viel: Philipp Kohlschreiber (25) würde lieber wie die Frauen spielen. „Die spielen ja schließlich nur zwei Gewinnsätze.“
dpa Fünf Sätze sind ihm zu viel: Philipp Kohlschreiber (25) würde lieber wie die Frauen spielen. „Die spielen ja schließlich nur zwei Gewinnsätze.“

Philipp Kohlschreiber, der schlechte Verlierer: Er verliert ein Spiel, einen Freund und den Respekt.

MELBOURNE Die sportliche Blamage gegen den müden Alten, der sich am Ende eines vierstündigen Tennisdramas kaum noch auf beiden Beinen halten konnte, war schon groß genug. Doch nach der peinlichen 7:5, 5:7, 6:3, 5:7, 3:6-Niederlage im Duell mit Trickkünstler Fabrice Santoro (36), sank Philipp Kohlschreiber noch viel tiefer – er wurde zum schlechtesten Verlierer der Australian Open 2009.

Eine halbe Stunde lag sein Knockout gegen Santoro zurück, da redete sich Kohlschreiber um Kopf und Kragen. Erst trat er übel gegen Santoro nach, den ältesten Turnierteilnehmer („Dem traue ich gar nichts mehr zu. Der wird jetzt im nächsten Spiel gnadenlos abgeschossen"), dann präsentierte der 25-jährige Bayer ein wüstes Sammelsurium von Argumenten, warum er die umkämpfte Partie eigentlich hätte gewinnen müssen. Tiefpunkt seiner Analyse war dies: „Die Grand-Slam-Regel mit drei Gewinnsätzen stinkt mir. Die Damen spielen ja schließlich nur zwei Gewinnsätze." Und weiter: „Heute hat mich das System Best of Five eine Runde gekostet, was mich wahnsinnig ärgert. Für mich macht das keinen Sinn. Man hat schon des Öfteren gesehen, dass die Fitness entscheidet und nicht das spielerische Können.“ Nichts zu können, das warf er dann gleich auch mal seinem Gegner vor (obwohl der ihn düpiert hatte!) und verfasste einen Nachruf auf seinen elf Jahre älteren Kollegen, der 2008 den Weltrekord für die meisten Grand Slam-Teilnahmen gebrochen hatte (62) und nun an seinem 66. Major teilnimmt: „Er hat in diesem Turnier sicher nichts mehr zu bestellen", ätzte Kohlschreiber über seinen Gegner, der sich selbst durchaus honorig gegenüber dem Verlierer gezeigt hatte: „Ich schaue Kohlschreiber eigentlich gern zu. Er ist ein Spieler, den ich mag".

Kohlschreiber fühlte sich „leer" und wisse ohnehin „nicht viel zu seiner Niederlage", so begann er die Brandrede am fatalsten Tag seiner achtjährigen Profi-Karriere. Für den Augsburger, der in der Tennisbase Oberhaching trainiert, war die Art der Niederlage ein bedenklicher Rückschritt, nachdem er 2008 bei den Australian Open noch mit einem grandiosen Drittrundensieg gegen Andy Roddick geglänzt hatte. Doch nun dies: Ein Match, in dem Kohlschreiber pausenlos die klare Linie fehlte, in dem er fast 100 Gewinnschläge, aber auch 69 einfache Fehler lieferte. Und dann einen geistiger Black-Out, der selbst wohlwollende Betrachter erschütterte. Kohlschreiber stellte die sonderbare Logik auf, es sei ungerecht, „dass die Spieler vorne über eine Aura verfügen und schnell mit ihren Matches fertig sind, während die Idioten hinten sich stundenlang den Arsch aufreißen. Roger Federer spielt heute 80 Minuten und lacht sich kaputt. Ich spiele an einem Tag genauso viel wie er in drei Spielen.“ Da empfahl ihm ein Reporter, er möge sich doch einen anderen Beruf suchen.

Bizarr war schon der Schlussakt in diesem Tennis-Fünfteiler: Denn obwohl Santoro auf der Zielgeraden von Krämpfen geschüttelt wurde und nach der Partie dann minutenlang reglos auf seinem Stuhl saß – unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen – hatte es Kohlschreiber nicht fertig gebracht, den ewigen Nomaden der Tour auszuschalten. Nie war in diesem Duell eine klare Linie im Spiel des Bayern zu erkennen.

Seine Chancen zum Sieg hatte Kohlschreiber gleichwohl. Er hatte einen 1:0-Satzvorsprung, dann eine 2:1-Satzführung, doch die Vorteile schmolzen dahin – nicht zuletzt, weil er einen Rest an Befangenheit und Nervosität nie ablegen konnte gegen den Franzosen. Der trieb am Ende ein garstiges Spiel mit Kohlschreiber, demütigte ihn mit allerlei Mätzchen und Tricksereien. Viel laufen konnte Santoro selbst nicht mehr, aber seine Erfahrung und seine Klasse reichten ihm, den Gegner laufen zu lassen.

Über Kohlschreibers Tag stand am Ende eine große Null. Match verloren, Respekt verloren, einen Kollegen als Freund verloren.

Jörg Allmeroth

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