Klinsmanns schöne neue Bayern-Welt

Am Wochenende startet der FC Bayern München in die Rückrunde. Der künftige Trainer stellt nicht nur die Mannschaft neu auf – vom »Verein zum Anfassen« zum »FCB 2.0«
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Am Wochenende startet der FC Bayern München in die Rückrunde. Der künftige Trainer stellt nicht nur die Mannschaft neu auf – vom »Verein zum Anfassen« zum »FCB 2.0«

VON PATRICK STRASSER

Bald sind sie weg, die besten Plätze an der Säbener Straße 51. Dann gibt es die Vogelperspektive nicht mehr. Momentan genießen Bauarbeiter in ihren Pausen von den fertigen Abschnitten des Neubau-Traktes noch die beste Aussicht auf das Trainingsgelände, den Parkplatz und den Fünfmeterraum für die Reporter vor dem Kabinentrakt der Profis.

Letzte Woche kam der Estrich ins Erdgeschoss. Der FC Bayern erweitert sich, die Ausbauphase mit zusätzlichen Geschäftsstellen-Büros, einem Service-Center für Fans und einer eigenen Arztpraxis soll Ende April – nach nur 13 Monaten Bauzeit – abgeschlossen sein. Dann ist zwei Monate Ruhe.

Bis zum 1. Juli, dann beginnt der wahre Neubau des FC Bayern. Der Tag, an dem Jürgen Klinsmann sein (vorläufig) auf zwei Jahre terminiertes Projekt Versommermärchenisierung des FC Bayern beginnt. Nicht allein. Wie am Mittwoch bekannt wurde, bringt er als Assistenten Martin Vasquez mit, einen 44-jährigen Mexikaner, den er 2003 bei einem Elite-Fußball-Camp in den USA kennengelernt hatte. Spanisch hat der Schwabe zuletzt gelernt, der FC Bayern wird ab Sommer zwei Amtssprachen haben.

Früher hieß der Verein mal e.V., damals war es ein eingetragener Verein. In den 90er Jahren wurde die Fußball-Abteilung zur AG. Der Verein ist mit herkömmlichen Methoden seit den 70er Jahren der Primus der Bundesliga. Ab Sommer wird die Version „FCB 2.0“ auf den Markt gebracht. Von Klinsmann, dem Konzept-Coach, dessen wichtigster Mitarbeiter der Laptop ist. Modernste Technik, modernste Methoden, modernste Assistenten. Ein IT-Coach. Nun wagt der WM-Bundestrainer das größtmögliche Experiment.

Es ist eine Risiko-Ehe. So wird Klinsmann nach Ende seiner Mission entweder eine prall gefüllte Trophäen-Vitrine hinterlassen oder verbrannte Erde – jedenfalls mehr als eine durchlöcherte Tonne, wie beim letzten Klinsmann-Gastspiel bei Bayern.

Schnitt: Zurück zum Hier und Jetzt. Morgen starten die Bayern mit der Auswärtspartie bei Hansa Rostock in die Rückrunde. Mit Superlativen schmückt sich der Verein, von vielen abschätzig als FC Ruhmreich bezeichnet, gerne. Also steht – wenn auch von den Bossen unausgesprochen – die schwerste Rückrunde aller Zeiten an. Ruhe als oberstes Gebot. Konzentration auf den Moment, auf das nächste Spiel. Ein Entschluss der Vorstandschaft lautet, sich bis zum Dienstbeginn von Klinsmann nicht mehr über den aktuellen Trainer Ottmar Hitzfeld zu äußern. Es ist eine Art selbstauferlegte „Silencio Klinsi“, ein Gesetz mit unvorhersehbarer Haltbarkeit beim Triumvirat Ulikallefranz. Die Spieler übernahmen die Richtlinie gerne. Wie abgesprochen sagen sie: „Unser aktueller Trainer heißt Ottmar Hitzfeld. Wir wollen in der Rückrunde unsere Ziele erreichen. Wir beschäftigen uns nicht mit dem, was im Sommer passiert.“

Tun sie doch. Ständigem Wettkampf sind die Profis ausgesetzt heutzutage. Um Stammplätze, Verträge, Tabellenplätze. Die Bayern-Profis führen noch einen anderen Wettkampf: Den Verdrängungswettbewerb, Abteilung Zukunftsbewältigung. Die Vergangenheit steckt noch im Verein, in Gedanken und Personen – sie ist noch längst nicht bewältigt. Der Verein ist voller Helden von einst. Das sind Personen, die noch knapp vier Monate vor sich haben, bevor der FC Bayern für sie Vergangenheit sein wird. Für Hitzfeld, der so schön „Proffi“ sagt mit seinem alemannischen Zungenschlag. Und mit Kahn, dem Kapitän, dem Oberproffi (na ja, meistens). Der Immerweitermacher hört auf. Seit 14 Jahren im Verein, ist er ab Sommer Geschichte – auch für die nähere Zukunft, da Klinsmann für mindestens zwei Jahre seine Rückkehr verbaut. Kahn geht mit Torwarttrainer Sepp Maier, dem Original in Torwarthandschuhen, der auf dem Trainingsplatz mit über 60 Jahren noch kurze Hosen bei jedem Wetter trägt. Ein Relikt. Ein Klinsmann-Opfer wie Kahn.

Und es geht der vom General zum Feuerwehrmann degradierte Trainer. Er geht zum zweiten Mal, diesmal freiwillig. Für ein halbes Jahr hatte er sich ab Februar 2007 nach dem Rauswurf von Felix Magath anwerben und dann zu einem weiteren Jahr überreden lassen. Nun hat die Vernunft gesiegt, wie er sagt.

„Es wäre sehr verlockend gewesen, weiterzumachen“, sagte der Mathematik-Lehrer, „aber ich freue mich wirklich darüber, dass ich die Kraft hatte, nein zu sagen und aufzuhören. Es ist die Entscheidung für meine Gesundheit und für mehr Lebensqualität, und das ist wohl mit 59 Jahren gerechtfertigt.“

Uli Hoeneß ist 56, auch er will sich ab 2009 mehr Lebensqualität und weniger Adrenalin-Produktion gönnen. Schon ab Sommer wird er wohl von der Bank auf die Tribüne wechseln, in zwei Jahren vom Management auf den Präsidentensessel. Mit der größtmöglichen Unsicherheit. Was macht Klinsmann? Was macht er aus dem FC Bayern? Er weiß es nicht.

Gegenüber der Personalie Klinsmann war der Versuch, 1995 den ewigen Bremer Coach Otto Rehhagel nach München zu verpflanzen, eine leichte Übung. Es ging daneben. So wie das Sprachexperiment mit dem netten Herrn Trapattoni. Das hat auch nur bedingt funktioniert.

Klinsmann stellt alles in den Schatten. „Selbstverständlich“ habe er Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, sagt Hoeneß. Der Teufel steckt im Detail, die geballte Faust des Managers in der Hosentasche. Geht Klinsmanns Masterplan auf? Man könnte genauso gut ein Horoskop anfordern. Hoeneß hat Bauchschmerzen.

Ohne zu ahnen, dass ihnen der Klinsmann-Coup im Januar 2008 gelingen würde, hatten die Bayern im Sommer 2007 angefangen, selbst den Laden auseinanderzunehmen. Man verabschiedete sich von der Politik der kleinen Schritte, der Sparsamkeit im internationalen Transfer-Business. Man wagte den Aufbruch in die Großmärkte: Zig Millionen wurden in Klose, Toni, Ribéry & Co. investiert.

Nicht nur wirtschaftlich, auch auf zwischenmenschlicher Ebene war Zeit für Veränderungen: Man verabschiedete sich von der Politik der schützenden Hand. Publikumslieblinge wie Santa Cruz und Makaay oder lang gediente Spieler wie Hargreaves, Pizarro oder Salihamidzic mussten oder durften gehen. Als hätten die Bosse Klinsmann geahnt. Entgegen früheren humanitären Gepflogenheiten werden selbst bestehende Verträge in Frage gestellt, alle stehen „im Schaufenster“, betonte Hoeneß, sprich: Niemand ist sicher, auch nicht im Vor-Klinsmann-Zeitalter.

Der wird nicht nur die Trainingsarbeit, auch die Medienpolitik des Vereins nach US-Vorbild ausrichten. Eine Struktur, angelehnt an die White-House-Press-Policy in Washington, soll demnächst umgesetzt werden: Mit eingeschränkter Interviewaktivität und einem kleinen, engen Reporter-Zirkel – wie beim US-Präsidenten, der sich auch nur mit seinem eigenen Press-Corps schmückt. Absolut Klinsi-like ist das, absolut zukunftsträchtig.

Wie die Tiefgarage. Mit dem Anbau an der Säbener Straße wurde ein unterirdischer Zugang zu den Kabinen geschaffen. Klinsmann und seine Auserwählten können künftig ohne Fan- und Reporterkontakt entschwinden.

„Drei Titel zum Abschied“, überlegte Hitzfeld laut, „das kann man meinem Nachfolger Jürgen Klinsmann doch wirklich nicht wünschen, oder?“ Kann man schon. Und ihm eine gute Zeit. Ebenso wenig wie der FC Bayern weiß Hitzfeld, wie es weitergeht. Er hat allerdings nette Alternativen: TV-Experte für Premiere oder Schweizer Nationaltrainer.

Uli Hoeneß wird ab Sommer wohl oft an Hitzfeld denken. Denn wenn der Umbau bei Bayern beginnt, sitzt der Ex-Trainer in seinem Domizil in den Schweizer Bergen von Engelberg. Sein Haus ist längst fertig.

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