Kassim Ouma: Boxer im Angesicht des Todes
München - Es sind diese Augen, die dich sofort in ihren Bann ziehen. Es sind die Augen eines Mannes, der viel zu viel gesehen und viel zu wenig vergessen hat. Es sind die Augen von Kassim Ouma. Vater von neun Kindern, ehemaliger Boxweltmeister. Flüchtling. Kindersoldat.
Ouma trainiert im Boxwerk von Nick Trachte in der Schwindstraße. Die Bewegungen haben etwas von einer Großkatze. Anmut, die sich mit Gefährlichkeit paart. Er lächelt. Die Augen fixieren dich, sie taxieren dich. Ein Freund, ein Feind? "Hallo, ich bin Kassim. Ich habe schon 18 Kilo abtrainiert", sagt er, zieht dabei sein T-Shirt hoch, um die Bauchmuskeln zu zeigen. Eine fast 20 Zentimeter lange Narbe zieht sich vom Solarplexus runter. Erinnerungen an zwei Schüsse, die er abbekam, als 2002 ein Restaurant überfallen wurde.
"Ich liebe München. Ich liebe Deutschland. Ich liebe es, wie man hier mit Flüchtlingen umgeht, sie als Menschen sieht und behandelt", sagt Ex-Weltmeister Ouma, "ich habe einen Fehler gemacht, bin nach 16 Jahren in Amerika zu Besuch nach Afrika gereist. Ich bin dort krank geworden, kam eineinhalb Jahre nicht mehr weg. Dadurch ist meine Aufenthaltserlaubnis in den USA abgelaufen. Ich kann deswegen meine Kinder nicht sehen. Jetzt bin ich froh, dass ich Deutschland bin. Dass ich im Boxwerk bin."
Ouma: "Ein Teil meines Lebens war wunderbar"
Hier verfolgt der 39-jährige Kassim, den sie "The Dream" nennen, seinen Traum, auf die Boxbühne zurückzukehren. Dort war er ein Großer. So wie am 2. Oktober 2004, als er im Caesars Palace in der Glitzer- und Spielermetropole Las Vegas gegen Verno Philips den Hauptkampf bestritt und den WM-Titel gewann. Im Vorprogramm: Wladimir Klitschko, der gegen DaVarryl Williamson den langen, harten Comeback-Weg nach seiner K.o.-Pleite gegen Lamon Brewster antrat.
Oder wie am 17. Juni 2011, als er im WM-Fight gegen K.o.-Maschine Gennady Golovkin nach zehn beherzten Runden verlor. "Das waren unbeschreibliche Gefühle", sagt Ouma, "ein Teil meines Lebens war wunderbar."
Ouma: "Sie brüllten uns an: Ihr habt keine Mamis und Papis mehr"
Der andere Teil ist die Hölle. Seine Vergangenheit ist sein übermächtiger Gegner, sein größter Feind. Wenn Ouma redet, senkt er oft die Augen. Manchmal schüttelt er sich. So, als müsste er einen Gedanken, ein Bild, aus seinem Kopf vertreiben. Bilder, die ihn verfolgen, die aber ein Teil seines Lebens sind, in dem er so viel sehen, erleben, begehen musste.
Dieses Leben, es beginnt am 12. Dezember 1978 in Magamaga in Uganda. Damals herrscht dort der bestialische Diktator Idi Amin über das Land. Über 300.000 Menschen werden ermordet, zu Tode gefoltert. In den Flüssen werden so viele Leichen versenkt, dass die Krokodile sie verschmähen, sie haben sich sattgefressen an den Kadavern.
Kassim kommt als Julius zur Wel t. Er ist das siebte von zwölf Kindern. Die Eltern sind Bauern - und Christen. 1979 flieht Idi Amin, Uganda versinkt im Bürgerkrieg. Dafür braucht es Soldaten. Kindersoldaten. Sie sind formbar, man kann ihren Willen brechen, ihre Gewissen vernichten, die Seelen töten. Ouma besucht ein Internat in Kibouga. Er ist erst ein paar Tage dort, als er von Soldaten gekidnappt wird. Ouma ist fünf Jahre alt. Es ist der Tag, an dem die Unschuld einer Kinderseele mit Waffengewalt genommen wird. "Sie brüllten uns an: Ihr habt keine Mamis und Papis mehr", erzählt Ouma.
Ouma: "Ich wollte nur überleben"
Es gibt nur noch Generäle und Soldaten. Die Kinder werden geschlagen, getreten, gefoltert. Solange, bis sie gebrochen sind. Er lernt zu gehorchen, unsichtbar zu sein, wenn die Folterknechte kommen. "Ich wurde abgerichtet, wie ein Hund, Ich habe gesehen, was passiert, wenn man nicht gehorcht hat. Ich wollte nur überleben", sagte er einst dem "Spiegel".
Er muss mit ansehen, wie Körperteile abgehackt, wie Menschen ermordet werden. Er tötet selber. Wie viele? Das weiß er nicht. Aber er erinnert sich an das erste Opfer. Einen Schulfreund, der seine Munition hat fallen lassen. Ouma bekommt den Befehl, ihn zu erschießen. Er zögert. Der Vorgesetzte sagt ihm, dass, wenn er nicht schießt, beide sterben. Er drückt ab. "Ich kann selber nicht glauben, was ich alles erlebt habe. Es ist so irreal", sagt er und senkt wieder den Blick, "aber was soll ich machen? Es ist mein Leben." Damals zwingen sie ihn, Allah anzubeten, und so wird aus Julius irgendwann Kassim. Den Namen, den er immer noch trägt.
Kassim versucht, diesen Bildern zu entkommen. Er trinkt, er kifft. Um zu vergessen, zu verdrängen. Etwa das Bild, wie er auf einem Leichenberg sitzt und sich eine Zigarette ansteckt. Der Rauch soll den Verwesungsgeruch aus der Nase halten. Ist er erst einmal dort, ist er auch im Kopf und von dort kriecht er in die Seele. Noch heute hat er den Geruch manchmal in der Nase. Deswegen versucht er, die emotionale Nulllinie zu finden, diesen Zustand der schwebenden Seele, losgelöst vom Hier und Jetzt - und von der Vergangenheit.
Ouma kann nicht gut allein sein, nicht allein mit sich sein. Das führt zum Nachdenken. Zu den Bildern. Er hat Albträume, in einem läuft er über einen Acker, dort sind Menschen vergraben, nur die entstellten Köpfe sind sichtbar. Sie schreien ihn an. Das ist seine Folter, die Geister, die ihn quälen. "Die Albträume werden weniger. Die Erinnerungen haben mich früher fertiggemacht, jetzt motivieren sie mich", sagt Kassim, "aber ich versuche, nicht mehr daran zu denken. Wenn ich das tue, falle ich in ein Loch. Daher habe ich gerne Menschen um mich."
Ouma: "Ich bin froh, wieder zu boxen"
So wie im Boxwerk. Die Bambini, die Kinder, liegen ihm am Herzen. "Manchmal ist er unbekümmert wie ein Kind. Ich glaube, er erlebt hier zum Teil die Kindheit, die er nie hatte", sagt Boxwerk-Chef Trachte.
Irgendwann lernte Kassim zu boxen. Er ist 14. Er powert sich aus. Ein müder Geist träumt nicht. "Ich trage keinen Krieg im Ring aus, Boxen hat mein Leben verändert." Er bettelt sich Geld zusammen, um nach Amerika zu kommen. Er will seinen Traum verfolgen: vom Kindersoldaten zum Millionär. 1998 kommt er im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten an. Er lebt im Obdachlosenheim, findet einen Boxklub.
Er ist besessen, getrieben von seinen Dämonen. Er will den Kopf ausschalten. Er boxt, er schlägt sie alle. Für den ersten Kampf kassiert er 500 Dollar. Für ihn ein Vermögen und vor allem der Schlüssel in eine Welt ohne Mord und Totschlag. Boxen, das ist sein Ticket in die Freiheit. Er heiratet, bekommt 2000 ein US-Visum. Daheim in Uganda gilt er damit als Verräter. Schergen suchen sein Heimatdorf auf, sie erschlagen seinen Vater. Wieder Albträume, wieder Schuldgefühle.
Seit diesem Jahr ist er in Deutschland. Sein alter US-Promoter hat ihm die Telefonnummer des Münchner Box-Kommentators Tobias Drews zugesteckt. Der kümmert sich um Ouma, versucht, ihm auf die Boxerbeine zu helfen. Am 8. Dezember stieg er in Hamburg gegen Ilias Essaoudi in den Ring, verlor umstritten nach Punkten. "Sie haben mir den Sieg geklaut", sagt Ouma, "aber ich bin froh, wieder zu boxen."
Die Dämonen sind leiser, die Albträume seltener. "Gott leitet mich. Es gibt keine andere Erklärung. Ich kann nicht verstehen, was in meinem Leben passiert ist. Es ist Gottes Wille." Dann schaut er einen mit diesen Augen, die so viel gesehen und nicht genug vergessen haben, an. Ein Mann auf der Suche nach Frieden für eine Seele, die gefoltert, verstümmelt wurde - aber sie ist nicht tot, sie hat überlebt. Kassim hat überlebt.
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