Kandahar-Abfahrt in Garmisch: Mit Sicherheit spektakulär

Die Garmischer Kandahar-Abfahrt ist die steilste Strecke im Weltcup. Nach dem schweren Unfall von Hans Grugger wird über die Sicherheit debattiert. Die AZ hat sich vor Ort umgeschaut
von  Abendzeitung
Alles zum Schutz der Fahrer und der Zuschauer: Zwei Helfer bohren Löcher für Stangen, an denen später Netze montiert werden.
Alles zum Schutz der Fahrer und der Zuschauer: Zwei Helfer bohren Löcher für Stangen, an denen später Netze montiert werden. © Sofianos Wagner

Die Garmischer Kandahar-Abfahrt ist die steilste Strecke im Weltcup. Nach dem schweren Unfall von Hans Grugger wird über die Sicherheit debattiert. Die AZ hat sich vor Ort umgeschaut

GARMISCH-PARTENKIRCHEN Die steilste Stelle des gesamten Ski-Weltcups, sie ist tatsächlich ganz schön steil. Und rutschig. Der Tourist, der gerade noch glaubte, den „Freien Fall“, diesen besonderen Abschnitt der Kandahar-Abfahrt, unfallfrei bewältigen zu können, ist eines Besseren belehrt. Ski und Stöcke hat er nach dem Sturz über den 92 Prozent steilen Hang verteilt, rappelt sich auf und krabbelt auf allen Vieren über das Geläuf. Andi Maier hat keinen Blick für ihn. Der Sicherheits-Chef der Kandahar zeigt nach oben und meint: „Da kommst lang, gerade hin und gehst mit 90 oder 100 Sachen drüber. 50 Meter weit. Wenn du willst auch 80.“ Aber wer will das schon: mit 100 Stundenkilometern 80 Meter weit fliegen, mit Skiern an den Füßen? Niemand. Außer professionellen Abfahrtsläufern.

Ski-WM auf der Kandahar, Garmischs Renommier-Piste in Sachen Abfahrtslauf. 3300 Meter lang, 920 Meter Höhenunterschied, maximal 92 Prozent steil. Noch steiler als die Kitzbüheler „Mausefalle“. Dort stürzte vor zwei Wochen der Österreicher Hans Grugger schwer; weitere Unglücksfälle folgten, nun hat die Branche kurz vor dem Höhepunkt der Saison eine massive Sicherheitsdebatte an der Backe. Muss man jetzt in Garmisch alles anders machen? Stefan Stankalla, Rennleiter der Damen-Abfahrt, sagt: „Nein. Wir bauen nach den Sicherheitsstandards des Weltskiverbandes FIS auf. Sprünge gibt’s, aber die werden so gebaut, dass sie für die Athleten fahrbar und gut zu meistern sind.“

Wo früher Bäume standen, hat Garmisch mit der Schneise „Freier Fall“ jetzt eine Attraktion, einen Hingucker. Doch die Pistenchefs wollen kein Risiko eingehen. „Wir wollen spektakuläre Rennen, aber auf sicherem Niveau“, sagt Stankalla, „wenn sich die Frage stellt, die sich sicher auch in Kitzbühel das ein oder andere Mal stellt: Lieber Sicherheit für den Läufer oder spektakulärer Rennsport?, sind wir immer auf der Läuferseite.“ Stankalla kennt Grugger gut: „Von der beruflichen Planung haut einen das nicht raus, vom Persönlichen schon. Aber man analysiert das dann auch: Da konnte weder der Pistenaufbau noch die Sicherheitsleute, die am Berg standen, etwas dafür. Das war einfach ein Fahrfehler.“

Was schlimme Renn-Unfälle angeht, ist die Kandahar kein unbeschriebenes Blatt. 1994 verunglückte die Abfahrerin Ulrike Maier tödlich. Seither gab es keine Frauen-Abfahrten mehr auf der Kandahar. Vor drei Jahren wurde die Strecke dann umgebaut und den Sicherheitsstandards der FIS angepasst.

Die mehr als drei Kilometer lange Strecke zu sichern, ist ein gewaltiger Aufwand. 25 Kilometer Netze müssen aufgebaut werden: die zwei Meter hohen B- und dahinter die sechs Meter hohen A-Netze. Allein die Installierung dieser A-Netze ist eine Wissenschaft für sich. Mit Pflanzenbohrern werden alle paar Meter Löcher durch die Piste und in den Grund gebohrt, worin so genannte „Totmacher“ versenkt werden, die das Netz fixieren. Wichtig dabei: die Neigung des Netzes. „70 bis 80 Grad sind ideal, weil da die Energie im Fall eines Aufpralls am besten ausgeleitet wird“, erklärt Andi Maier.

Seit vielen Jahren ist er technischer Delegierter bei der FIS, kennt die Kandahar im Schlaf. „Alle TV-Türme auf der Strecke und der Zielraum werden mit so genannten Air-Fans geschützt.“ Die Sicherheitsbroschüre der FIS hat er immer am Mann. Deren Maßnahmen garantierten „tausendprozentige Sicherheit, die gelten bei jedem Weltcup-Rennen - aber nicht bei den Wettkämpfen im Europa-Cup oder bei FIS-Rennen. Da fragt man sich: Ist denn die Sicherheit von Nachwuchsläufern weniger wert?“ Sprach’s, schüttelt den Kopf und zischt den „Freien Fall“ runter als sei es ein schnöder Ziehweg. Eben wie einer, der die Gefahr kennt, sie aber zu beherrschen weiß. Thomas Becker

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