Justines unerfüllte Sehnsucht

In Melbourne startet die Belgierin Henin (27) nach 20 Monaten Pause ihr Comeback – weil sie, ehemals die Nummer 1, irgendwann doch noch mal in Wimbledon triumphieren will.
AZ: Frau Henin, was hat Ihnen die erste Australian Open-Woche über Ihr Comeback gezeigt?
JUSTINE HENIN: Dass ich immer noch eine richtig gute Fighterin bin, schwierige Situationen meistern kann. Aber ich weiss auch, dass der Weg an die Spitze noch weit ist. Auch wenn viele das anders sehen und glauben, ich wäre schon wieder absolut top.
Zwei große Herausforderungen haben Sie bereits erfolgreich bewältigt: Sie siegten gegen Olympiasiegerin Jelena Dementiewa, kamen nach einem deutlichen Rückstand noch gegen Alisa Kleybanova zurück, holten sich ihren 500. Toursieg.
Das war wohl die härteste erste Woche, die ich je bei einem Grand Slam hatte. So ein Match in der zweiten Runde gegen die Nummer 5 der Setzliste, das ist schon aussergewöhnlich. Und die Partie gegen Kleybanova, die hat gezeigt, dass heutzutage noch viel mehr Spielerinnen auf einem fantastischen Level unterwegs sind. Der Konkurrenzkampf ist noch härter geworden, weil selbst jüngere Mädchen schon athletisch bestens ausgebildet sind und mutig ihre Chancen suchen.
Aber die Erfolge haben ihren Status als Geheimfavoritin auf den Titel zementiert – beim ersten Grand Slam-Turnier nach Ihrer Rückkehr.
Aber ich selbst spüre gar keinen Druck. Denn ich kann einschätzen, dass noch viel Arbeit vor mir liegt. Und dass ich nicht wie selbstverständlich von Null auf Hundert marschieren kann – oder muss. So ein Siegeszug wie von Kim Clijsters in New York passiert nicht alle Tage. Und ist schon gar keine Selbstverständlichkeit.
Wie haben sich die ersten Turnierwochen denn insgesamt angefühlt?
Einfach schön. Ich fand, dass mein Spiel generell gut in Schuß war. Aggressiv, variabel, druckvoll. Und nach dem ersten Lampenfieber war auch die Nervosität vor der großen Kulisse weg, vor diesen Tausenden Zuschauern, die gespannt waren auf mich.
Dass Sie überhaupt zurückgekehrt sind auf den Tennisplatz, ist offenbar auch Roger Federer zu verdanken.
Am Finalsonntag der French Open letztes Jahr habe ich zum ersten Mal seit meinem Rücktritt wieder ein Tennisspiel angeschaut. Vorher hatte ich gar kein Interesse, keine Motivation. Aber dann sah ich, dass Federer gewann, dass er sich seinen letzten großen Traum als Tennisspieler erfüllte, dass er das scheinbar Unmögliche doch schaffte.
Und was hat das mit Ihnen zu tun?
Ich habe immer geglaubt: Ich kann doch auch gut ohne einen Wimbledon-Sieg leben. Dieser Sieg macht mich auch nicht glücklicher oder besser als Spielerin. Aber nun sehe ich da im Fernsehen Roger, wie er in Paris siegt – und da meldet sich irgendwie eine Stimme in mir, die mir sagt: Wimbledon zu gewinnen, wäre ja doch eine schöne Sache. Das war schon ein seltsames Gefühl. Denn was Paris für Federer war, das ist Wimbledon tief in meinem Herzen wohl doch auch: Eine unerfüllte Sehnsucht.
Sie haben selbst gesagt, dass Sie zur Zeit des Rücktritts leer, müde und ausgebrannt waren. Und dass sie niemals wiederkehren würden.
Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, wie nun alles gekommen ist. Ich erinnere mich noch ganz gut daran, wie es in mir aussah im Frühling 2008. Da war einfach eine große Leere. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr über meine Siege Freude, über die Tatsache, dass ich die Nummer 1 der Welt war. Ich hab´ eher darüber gegrübelt, warum ich nichts ausser Tennis kann – und dass ich neue Perspektiven brauche.
Freunde von Ihnen sagen, Sie hätten sich sehr in ihre Tennis-Karriere verbissen.
Ich hatte immer einen starken Ehrgeiz, einen Antrieb, eine Sache perfekt machen zu wollen. Tatsache ist: Das Tennis hat mich vollständig eingenommen, es war wie ein eigenes Universum, in dem man nur dafür lebte. Es war schon schwierig, weil das Privatleben dem Tennis völlig untergeordnet war.
Und nun stürzen Sie sich wieder hinein in die Tretmühle Tennistour, nur um Wimbledon noch einmal zu gewinnen?
Es geht nicht nur um Wimbledon. Das war der Impuls, um noch einmal anzufangen. Aber ich Freude mich auf viele schöne Orte. Auf Paris, die French Open – das Turnier, das ich am meisten liebe. Ich bin ja erst 27, und das ist ja eigentlich kein Alter, um schon in Pension zu sein. Ich weiss, dass ich Tennis nach dieser Auszeit, nach dieser Zeit der Besinnung, anders angehen werde. Ich gehe ausgeglichener an diese Herausforderung heran. Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, nicht den Menschen Justine Henin auszublenden bei alledem.
Es gab viele in Belgien, die angezweifelt haben, dass Federer und dessen Wimbledon-Sieg Ihr Comeback ausgelöst haben. Da war eher die Rede davon, dass Kim Clijsters und deren geglückte Rückkehr die Initialzündung gewesen sei.
Nein, das hatte wirklich nichts mit Kim zu tun. Meine Gefühle fürs Tennis waren erloschen, aber dieser Impuls, es noch einmal zu versuchen, der war schon da, bevor Kim tatsächlich zurückkehrte und Erfolg hatte.
Interview: Jörg Allmeroth